Süddeutsche Zeitung

Theater:Virtuelles Peng Peng

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Die Münchner Kammerspiele verwandeln Tom McCarthys Erfolgsroman "8 ½ Millionen" in ein multiples Scheitern.

Von Egbert Tholl

Den grundlegenden Fehler dieser Aufführung kann man bereits im Programmzettel nachlesen. Dort steht, der Roman, der auf die Bühne der Spielhalle in den Münchner Kammerspielen gebracht wird, bringe ein Lebensgefühl auf den Punkt, "das von den nichtlinearen Erlebnisräumen der Netzwelten bestimmt wird". Das ist, wenn nicht gar ganz falsch, so doch eine unzulässige Vereinfachung. Das Internet spielt im Roman nicht die geringste Rolle.

Als "8 ½ Millionen" von Tom McCarthy 2009 auf Deutsch erschien (im Original heißt das Buch "Remainder"), flutete eine Welle der Bewunderung durch die Feuilletons, der Theatermacher Milo Rau etwa schrieb in der Neuen Zürcher Zeitung eine Rezension, die der Wiedergabe eines Erweckungserlebnisses gleichkam. Es geht in "8 ½ Millionen" um das Herstellen von Realität, aber der namenlose Ich-Erzähler hat kein Problem mit dem Internet, ihm fällt etwas auf den Kopf. Irgendetwas, mit einem monströsen Geheimnis behaftet, saust aus dem Himmel auf ihn hernieder, er fällt ins Koma, verliert sein Gedächtnis sowie Teile seiner Hirn- und Körperfunktionen. Mühsam muss er neu lernen, wie man eine Karotte isst, wie man geht, wie man eine Kühlschranktür öffnet.

Bei einem Bankraub kommt ein Mitspieler zu Tode. Kommentar des Erzählers: "Wunderschön."

Die Wiederherstellung, die Umleitung der Ströme im Hirn in nicht beschädigte Bereiche desselben, funktioniert gut. Aber alles, was der Ich-Erzähler fortan tut, ist gleichsam auswendig gelernt, ist, als sage er einen Text auf, dessen Inhalt er nicht begreift. Gleichwohl lässt ihn McCarthy selbst reflektiert darüber sprechen, lässt ihn die Distanz zwischen sich und dem, was er tut, stark empfinden. Darin sieht sich der Erzähler als normaler als alle Normalen, und dieses Einrichten im Uneigentlichen will er durchbrechen; zu Hilfe stehen ihm eben 8,5 Millionen Pfund Entschädigung, die sich dank lukrativer Börsengeschäfte vermehren "wie Joghurt".

Damit und mit Hilfe eines höchst effizienten Menschen namens Naz von einer Agentur für Erledigungen aller Arten lässt er mir dandyesker Grandezza eine hyperreale Welt erschaffen. Er kauft ein Mietshaus, lässt es von sogenannten Nachspielern bevölkern, die nach seinen exakten Angaben Verrichtungen durchführen müssen, wieder und immer wieder. Eine Frau muss Leber braten, sodass man den Gestank im ganzen Haus riechen kann, ein Klavierspieler muss unentwegt Rachmaninow spielen und dabei Fehler einarbeiten. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses müssen schwarze Katzen spazieren gehen - sie stürzen regelmäßig ab.

Der Erzähler hat eine genaue Vorstellung davon, wie alles zu sein hat; im Laufe des Romans lässt er mit Hunderten Mitwirkenden Schießereien und einen Banküberfall nachspielen, der am Ende zum Fiasko wird, weil er den dafür erschaffenen Ort verlässt, den gesamten Nachspielvorgang in eine echte Bank verlegt, wobei einer der Mitspieler zu Tode kommt. Kommentar des Erzählers: "Wunderschön."

Dieser Banküberfall ist der Höhepunkt der Münchner Aufführung. Man sieht: ein Videospiel. Der virtuelle Akteur darin trägt die Züge von Franz Rogowski, dem Darsteller des Ich-Erzählers. Man sieht eine Schießerei und eine Verfolgungsjagd wie in jedem Ballerspiel, und am Ende werden die vielen jungen Leute im Publikum johlen vor Begeisterung. Aber nicht, weil sie gerade Zeuge einer erkenntnisphilosophischen Reflexion wurden, sondern weil sie das Theater mit dem gefüttert hat, womit sie sich zu Hause ohnehin beschäftigen.

Regisseur Giesche macht einfach irgendetwas mit der Netzwelt, ohne dieser näher zu kommen

Im Roman erklärt der Erzähler, weshalb er seine hyperakribischen Spielanleitungen umsetzen lässt: "Um echt zu sein, ohne den Umweg, der uns vom Wesentlichen des Ereignisses wegführt, der aus uns allen zweitklassige Secondhand-Figuren macht." Dies zu begreifen ist Regisseur Alexander Giesche nicht gewillt und zeigt ein Videospiel mit bestenfalls drittklassigen Avataren. Er macht einfach irgendetwas mit der Netzwelt, wie schon in der vergangenen Saison an den Kammerspielen, ohne dieser näherzukommen; gleichzeitig kümmert ihn die Komplexität seiner Vorlage nur so weit, wie sie eben diesen Punkt vermeintlich evozieren kann.

Bis man zu diesem gelangt, also zum Videospiel, sieht man zweieinhalb Stunden einer sehr konventionellen Aufführung, die äußerlich von Performance raunt, im Kern aber allerbravstes Erzähltheater mit klaren Rollenzuschreibungen ist. Rogowski spielt den Ich-Erzähler und er erzählt viel, wobei darin vielleicht ein gewisser performativer Akt zu erkennen ist, einfach in der Herausforderung, seinem Sprechen zu folgen, woran man sich allerdings bald gewöhnt. Weniger gewöhnt man sich an Maja Beckmann, der als potenziell mögliche Geliebte des Erzählers die Worte aus dem Mund kriechen wie müde Mehlwürmer. Das Trio, das von drei jungen Darstellungsgehilfen unterstützt wird, komplettiert Christian Löber als der Allesermöglicher Naz mit in diesem Kontext geradezu funkelnder Schläue.

Während per Hand ein kreisrundes Bühnenpodest gedreht wird, Plüschkatzen maunzen, allersimpelste Klaviermusik eingespielt wird (garantiert nicht Rachmaninow) und ein Video Franz Rogowski auf einem Spaziergang durch München zeigt, haben die drei nicht viel mehr zu tun, als weitgehend unbeteiligt Text abzusondern. Der den Kammerspielen eng verbundene Regisseur Giesche offenbart eine Theaterhaltung, die erklärt, warum dem Haus Schauspielerinnen wie Brigitte Hobmeier davonlaufen, Schauspielerinnen, die mehr sein wollen als Funktionstierchen in einem sehr selbstgenügsamen Gefüge.

Der Roman hat einen irren Sog, und man riecht bei der Lektüre förmlich den Asphalt, wenn auf der Straße eine Schießerei nachgestellt wird. Die Faszination von Giesches Inszenierung indes liegt woanders: in einem multiplen Scheitern, sowohl nach den Kriterien der Performance, des Schauspielertheaters wie auch in der intellektuellen Auseinandersetzung mit einem Thema, das viel zu groß ist für ein bisschen virtuelles Peng Peng.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2016
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