Süddeutsche Zeitung

Theater:Sieg des Systems

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Martin Kušej hat am Münchner Residenztheater Schillers "Don Karlos" inszeniert. Man hört nichts, sieht nichts, versteht nichts - und trotzdem ist das ein starker Theaterabend.

Von Johan Schloemann

Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muss es - wie mich deucht - durch die Situation und den Charakter König Philipps geschehen."

Das hat Friedrich Schiller über seinen "Don Karlos" gesagt. Das Stück, am Vorabend der Französischen Revolution geschrieben, verstrickt den Kampf zwischen Macht und Freiheit in ein royales Familiendrama. Außerdem zeigt es, mehrere Jahre vor der Erfindung des Tugendterrors in Paris, schon die Schattenseiten der revolutionären Moral auf, die berüchtigte Dialektik der Aufklärung. Am Residenztheater in München hat es jetzt der Intendant Martin Kušej inszeniert, in seiner vorletzten Saison, bevor er nächstes Jahr Direktor des Wiener Burgtheaters wird. Die Premiere war am Donnerstagabend, bis kurz vor Mitternacht.

Es herrscht eine Atmosphäre von Verschwörung, Verhör, Gefängnis oder auch Labor

Und? Kann dieser "Don Karlos" die Zuschauer "schmelzen", also, wie Schiller das meinte, ihnen "Tränen ablocken"? Das hängt von der Überwindung von dreierlei Hindernissen durch die Zuschauer ab.

Das erste ist ein akustisches. Die Herausforderungen des Schiller-Sprechens an heutige Schauspieler - also schwärmerischste Erregung mit präzisestem Konsonantenspucken zu verbinden - wurde am Premierenabend verschieden gut bewältigt. Das Ergebnis des Deutlichkeitswettbewerbs kann vorweggenommen werden, weil es genau den Macht- und Gunstverhältnissen innerhalb der tragischen Freundschaft entspricht, um die das Stück kreist: Am besten ist Franz Pätzold als Marquis Posa, am schlechtesten Nils Strunk als Don Karlos, Infant von Spanien. Und weil es in dieser Inszenierung, zuerst in der Sommerresidenz in Aranjuez, dann am Hof in Madrid, überhaupt meist sehr, sehr still ist und die Figuren oft zueinandergekehrt fern dem Bühnenrand ihre Jamben dahinhauchen, gab es anfangs gleich Gemurmel im Publikum, sogar in der fünften Reihe: "Also, ich versteh' fast gar nichts."

Das zweite Hindernis: Es ist sehr dunkel. Also über weite Strecken des Abends so nachtfinster, dass die grün leuchtenden Notausgang-Schilder das Hellste sind. Aber es gibt hier aus dem System von Hierarchie, Gehorsam und Inquisition keinen Notausgang, auch wenn Herrscher wie Beherrschte ihn in diesem Stück immer wieder hoffnungsvoll oder verzweifelt suchen, nur eben am Ende den Tod von Posa und Karlos. Ersterer scheitert durch Überhebung, zweiter durch Schwäche an jenem System. In nur ein bisschen fahlem Weißlicht treffen sich die Figuren in ihren ebenfalls ausnahmslos schwarzen Kleidern, es entsteht über fünf Akte eine Atmosphäre von Verschwörung, Verhör, Gefängnis oder auch Labor, wenn es denn so dunkle Labore gäbe. Zudem geht zwischen jeder Szene ganz das Licht aus, manchmal auch länger, obwohl es auf der Bühne (gestaltet hat sie Annette Murschetz) nichts umzubauen gibt. Auch wegen der Dunkelheit Murren im Parkett.

Und das dritte Hindernis ist die Handlung. Es ist ohnehin schon so, dass vom "Don Karlos" eher die Grundkonflikte unvergesslich sind. Das sind unter anderem: das Zerwürfnis zwischen dem Vater, König Philipp II., und seinem 23-jährigen Sohn Karlos, der für einen Schwächling gehalten wird und von seiner alten, gefährlichen Liebe zu Elisabeth von Valois nicht lassen kann, die inzwischen dummerweise Königin geworden und mit seinem Vater verheiratet ist.

Sodann das große, um zwei Jahrhunderte verfrühte Plädoyer des Idealisten Posa für die Gedankenfreiheit der Protestanten in den spanisch beherrschten Niederlanden, für Toleranz, Autonomie und Aufklärung überhaupt - auch hier der Höhepunkt des Stücks -, das den König aber nur persönlich, nicht inhaltlich beeindruckt. Und eben die Freundschaft zwischen Karlos und Posa, die an dessen Einsatz für seine höheren Ziele zerbricht.

All die kleineren und größeren Intrigen aber, die diese Konflikte am spanischen Hof begleiten und schüren, die merkt man sich nicht so leicht: Wer hat jetzt noch mal wessen Briefe abgefangen? Welcher der Granden steuert welches Komplott? Wer durchschaut die Konsequenzen seiner Pläne, wer nicht? Dieses Problem verschärft sich bei Kušej massiv: Durch die extrem konzentrierte, reduzierte Anordnung, die keine optischen Anhaltspunkte, keinen szenischen Kontext zulässt, ist es noch viel schwieriger, all dem zu folgen.

So, nun könnte man meinen: Man hört nichts, man sieht nichts, man versteht nichts - das sind eigentlich nicht so gute Voraussetzungen für einen gelungenen Theaterabend. Aber zwei Gründe sprechen dafür, sich als Zuschauer auf die Überwindung dieser Hindernisse einzulassen. Zum einen passt all das, was Martin Kušej einem zumutet, gut zum Charakter und noch besser zur Situation, in der sich König Philipp befindet und die in der zweiten Hälfte der Tragödie quälend zu Tage tritt: Er ist von einem undurchdringlichen Überwachungssystem umgeben und weiß mittendrin am allerwenigsten, wie ihm geschieht und was gespielt wird.

Entsprechend wird der Abend mit zwei surrenden, beleuchteten Drohnen eröffnet, die wie Glühwürmchen durch das Dunkel schwirren und zu Beginn schon alles zu wissen scheinen, was wir nachher nicht verstehen werden. Dazu Andeutungen von Schreien und Misshandlungen: ein staatlich-kirchliches Terrorsystem, die Inquisition, die am Ende siegen wird. Zwischen den Szenen hört man zudem immer ein elektronisches Fiepen, Zirpen und Brummen (Musik: Bert Wrede), das man als höfisches Getuschel, als mentale Folter oder als Grundton eines dumpfen, finsteren Machtapparats deuten kann. Und dann öffnet sich für manche Szenen per Drehbühne die Ecke eines Raumes, der nach einem schallschluckenden Tonstudio aussieht - die segmentierte, abhörsichere Wand im Inneren der Macht, die aber auch den König selbst isoliert, den letztlich schuldigen, aber doch höchst bedauernswerten Allein-Herrscher.

Große Erleichterung, wenn Franz Pätzold als Marquis von Posa einmal "Puh...!" sagt

Der zweite Grund, nicht lange zu murren über die Anstrengungen des Zuschauens: Wenn man sich einmal auf das karge Setting eingelassen hat, wenn man notgedrungen die Sinne scharf stellt, erlebt man danach eine wirklich starke, intensive, fesselnde Aufführung. Sicher, zum Ende hin überdehnt Kušej auch mal die Askese und reduziert seine Experimente mit Ruhe und Zeit ad absurdum: "Wie rasch verwandelt sich die Macht", sagt da ausgerechnet der Herzog Alba (Marcel Heuperman), während man in der Stille eine Ewigkeit warten muss, bis der nächste Satz fällt. Und als Franz Pätzolds Posa nach seinem großen Dialog mit dem König einmal "Puh...!" sagt, da merkt man schmerzlich, dass das jetzt einer der ganz wenigen Momente komischer Erleichterung, ja überhaupt der Auflockerung war.

Sonst aber schafft die Reduktion eben auch faszinierende Zuspitzungen. Thomas Loibl als König Philipp wird im Laufe des Abends je bitterer, desto besser. Dieser großartige Schauspieler hat ja sogar fast ein Habsburgerkinn, aber auch ohne dieses käme bei seinem Spiel beeindruckend heraus, wie sehr er in seinem Herrscherkörper gefangen ist. Wer Loibls Rolle in dem Film "Toni Erdmann" kennt, weiß, dass Manager wie Könige eben manchmal nackt dastehen müssen. Einen souveränen Gegenpol bildet Lilith Häßle als Königin, der es aber auch nicht gelingt, ein bisschen mehr französische Eleganz und Menschlichkeit in der unerbittlichen spanischen Zentralmacht zu etablieren. Imposant ist auch die schnelle Verwandlung von Meike Drostes Prinzessin Eboli aus der Liebenden zur wutsabbernden Rächerin und Intrigantin.

Brillant ist, wie gesagt, Franz Pätzold als Marquis Posa, mit seiner schnarrend nasalen Stimme macht er seine chancenlosen Ideale, seine bewegende Selbstüberschätzung und besonders auch die Entfremdung gegenüber Karlos gespenstisch klar. Umso deutlicher wird die Schwäche von Nils Strunk als Karlos, die aber der Intention des Stücks entspricht: Wer erklärtermaßen das Jahrhundert in die Schranken weisen will, dabei aber "die Schranken" beim Reden verschluckt, hat von vornherein schlechte Karten. Trotz der Unerbittlichkeit dieser Inszenierung und der Macht, die sie darstellt, wissen wir ja aber zum Glück, dass die Freiheit doch immer eine neue Chance bekommt. Und sei es durch den Notausgang.

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Quelle:
SZ vom 19.05.2018
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