Süddeutsche Zeitung

Theater:Leidensthriathlon

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Freitod, Wahnsinn, Depression - in Hamburg werden drei Stücke über Mütter gezeigt. Fazit: Bloß nie Kinder kriegen, alle Mamis sind unglücklich.

Von Till Briegleb

Muttertage in Hamburg. Auf drei Bühnen nur Verzweifelte. Die einen haben das Selbstmord-Gen. Die andere die Mordlust. Und alle weiteren Mamis sind auch unglücklich. Eine will kein Kind von dem Mann, den sie liebt, und zeugt es dann mit dessen Bruder. Ihre Schwägerin mit zwei Kindern ist auch nicht fröhlicher. Und selbst ein Mann kann plötzlich Mutter sein, so verkehrt ist die Welt für alle Frauen, die nichts zu lachen haben. Jedenfalls nicht die vielen Stunden lang, die diese drei Theaterstücke an zwei Häusern neun Frauenschicksale beschreiben, von denen vier im Freitod enden. Herbstblues oder Dunkelziffer, Depri-Barometer oder Metaphern für den Zustand der Welt? Wie auch immer, Mutter möchte man nicht mehr sein nach diesem Seufzertriathlon mit den Streckenabschnitten: "Anatomie eines Suizids", "Neverland" und "Sechs Koffer".

Es fängt an mit einem Selbsttötungsversuch. In einem tristen Bunker (Bühne: Alex Eales) steht Clara (Julia Wieninger) mit verbundenen Handgelenken und erklärt ihrem liebenswerten Mann (Paul Herwig), das sei nur ein "Unfall" gewesen. Schnell erfährt man, dass diese Frau ihre Depression weitervererben wird, denn Alice Birch, die Autorin von "Anatomie eines Suizids", erzählt drei Geschichten parallel, von drei Generationen, alle seelisch versehrt. Clara, ihre Tochter Anna (Gala Othero Winter) und deren Kind Bonnie (Sandra Gerling), jede immun gegen Mutterglück.

Katie Mitchell spielt am Deutschen Schauspielhaus dieses Trauer-Domino in der generalstabsmäßigen Schonungslosigkeit durch, mit der sie stets Stoffe in Darstellungsmaschinen verwandelt. Die drei Leidensepisoden, die 1971, 1997 und 2033 beginnen, erzählt sie gleichzeitig in Form eines mechanischen Balletts der Sätze, Bewegungen und Umkleidepausen, bei denen die drei Protagonistinnen zu Schaufensterpuppen erstarren. Alles sitzt perfekt, fügt sich sauber ineinander, selbst wenn auf den drei Bunkersektoren simultan etwas geschieht. Das Publikum wird militärisch geführt, ist stets im Bilde, welche der Frauen gerade wem erklärt oder zeigt, dass sie eigentlich nur sterben möchte. Depression als Apparat. Niederdrückend, humorfrei und tödlich mit Ansage.

Hier ist Peter Pan eine weibliche Scheinwaise, Hook ist seine wahre Mutter

Das sollte bei Peter Pan eigentlich anders sein. Aber die Version von dem Jungen, der nie erwachsen wird, die Antú Romero Nunes und seine Mitautorin Anne Haug für ihr Projekt "Neverland" am Thalia-Theater erfunden haben, fliegt nicht leicht durch die Luft, sondern zentrifugal auseinander. Und sie ist auch kein amerikanisches Märchen, sondern eine typisch deutsche Textcollage längs linker Tagesthemen wie Gender, Gentrifizierung und globaler Gefahren. Hier ist Peter Pan eine weibliche Scheinwaise (Electra Hallman), die so besessen ist von dem Wunsch nach Mutterliebe, dass sie sogar einen Kerl als Mami akzeptiert (Marko Mandić). Der gebiert ihr alienmäßig eine Brut neuer Geschwister. Pans wahre Mutter aber ist Hook (Christiane von Poelnitz), die ihre Blage liebend gerne töten will, man erfährt allerdings nie, warum eigentlich.

Dieses Projekt zeigt die Anatomie eines Ambitions-Suizids. Da das Thalia sich diese Spielzeit "international" präsentieren will, wurden für "Neverland" zwölf Gäste aus 20 Ländern gecastet, die in 100 Szenen mit 1000 Ideen die ganze Welt in eine Nussschale hineinziehen möchten - und das ist der Grund dafür, why they never land, um es mal mit einem Kalauer zu sagen. Da wird über Ronaldos Homosexualität spekuliert und ein Schlenker zu den Protesten in Hongkong gezogen, die Geschichte der Matebrause kritisch hinterleuchtet und griechische Tragödie zitiert, Portugiesisch mit seinen vielen "Sch"-Lauten als die schlimmste Sprache der Welt gedisst und zwischendurch die Augsburger Puppenkiste imitiert.

Dieser Verhau aus Szenenschnipseln, Filmkostümen, kritischer Weltsicht, Genderchange und Vielsprachigkeit zerfleddert dann auch noch in lauter unterschiedliche Spielformen. Das erinnert mal an russisches Volkstheater, dann an Jugendchaos im Friedenscamp, mal an kerndeutsches Pathosdröhnen und ab und zu auch an überzeugendes Schauspiel, aber bitte immer nur kurz. Vor allem Electra Hallman vom Dramaten in Stockholm sowie Pascal Houdus und Christiane von Poelnitz aus dem Thalia-Ensemble sorgen für Spuren von unpeinlichem Spielspaß. Aber warum Petra Pan am Ende als Jesus am Kreuz stirbt und Mama Mann endlich Papa wird, können sie auch nicht erklären.

Der Mutterselbstmord in Maxim Billers Roman "Sechs Koffer", den Elsa-Sophie Jach im Thalia Gaußstraße für die Bühne adaptiert hat, ist dagegen wieder ganz irdisch. Natalia (Marie Rosa Tietjen) wirft sich in Genf vor den Laster. Sie hat ihr Kind vom falschen Bruder, hat mit den falschen Professoren geschlafen, um Filmkarriere zu machen, und sie wird von der Familie ihres Gatten auch noch fälschlich bezichtigt, in den Fünfzigern den Schwiegervater, einen jüdischen Devisenschmuggler in Moskau, verraten zu haben, worauf der gehängt wurde. Oder doch nicht fälschlich? Das jedenfalls ist das "dunkle Geheimnis" von Billers Familie, das er in diesem Roman an den Schauplätzen Prag, Zürich, Montreal, London und Hamburg aufzuklären versucht. Wer war's, der den bösen Tipp gab?

In einem extrem variablen Bühnenbild (von Marlene Lockemann) aus vier Neon-Arkaden, die zu unterschiedlichsten wechselfarbigen Räumen verschoben werden können, erzählt Jach diese Geschichte mit den Händen ihrer Darsteller. Während sie die zunächst verwirrenden, dann immer klarer werdenden Familienverhältnisse berichten, steuern sonderliche Handbewegungen die Akteure zu marionettenhaften Tänzen. Paul Schröder muss ständig schnipsen, Tim Porath wird durch die Welt gezogen wie Pegman in Google Maps, Tietjen bewegt sich ihren Händen folgend wie eine Knetfigur, und am brillantesten erzählt Bekim Latifi als Maxim Billers Alter Ego von aufregenden Entdeckungen in der Schublade seines Onkels mit extrem gymnastischen Körperverknäulungen.

Damit findet Jach eine sportlich-unterhaltende Lösung für das Problem so vieler Romanadaptionen, die eben zentral aus Prosa bestehen und nicht wie Stücke aus Dialogen und deswegen oft zu ödem Aufsagetheater an der Rampe neigen. Ihre Inszenierung ist eine Choreografie, ein Textturnen im Neongerüst, bei dem selbst zu lange Monologe keine echten Durchhänger bilden. Dazu öffnet die Sopranistin Lisa Florentine Schmalz noch manchmal Aufmerksamkeitsfenster, indem sie traurige Lieder oder energische Technonummern singt. Viel mehr Mittel braucht es nicht, um dieser Uraufführung interessiert zu folgen, die von sechzig Jahren Nachkriegswehen zwischen den Machtblöcken aus der Perspektive familiärer Traumata erzählt.

Paaren mit Kinderwunsch und Schwangeren ist allerdings auch von dieser Inszenierung abzuraten. Trauriger als die Beschreibungen von Elternschaft als Glücksfalle in diesen drei Stücken ist eigentlich nur der Zustand von Mutter Erde selbst. Und auch der schreit eher nach Fortpflanzungsstreik. Mamma mia, gibt es denn wirklich keine Glückshormone mehr im Theater?

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Quelle:
SZ vom 24.10.2019
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