Süddeutsche Zeitung

Theater:Der Gelbwesten-Test

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Der Popregisseur René Pollesch interessiert sich nicht für Klassenkämpfe. In seinem Stück "Black Maria" in Berlin reist er munter nach Alaska.

Von Peter Laudenbach

Es gibt in Berlin ein neues Spiel, das ein seltsames Licht auf Opernaufführungen, Ausstellungen, Konzerte oder Theaterpremieren wirft: den Gelbwesten-Test. Man fragt sich für einen Moment, wie das Kunstereignis aus der Perspektive der Berliner Banlieue, auf Bewohner der Hochhausghettos am Stadtrand mit vielen Hartz-IV-Abhängigen und AfD-Wählern wirken dürfte. Vieles im abendlichen Hochkulturgeschehen könnte beim Gelbwesten-Test etwas parfümiert und eitel aussehen. Nichts gegen das Wunderwerk einer Operninszenierung von Barrie Kosky, ein Schönberg-Konzert, die Intelligenz einer Pollesch-Premiere. Jedes Kunstwerk schafft sich seine eigene Wirklichkeit, es ist nicht für die Arbeitslosenstatistik zuständig.

Aber wenn man sich kurz fragt, wie es auf Leute wirken könnte, die ganz andere, etwas härtere Probleme haben, entsteht eine Art Doppelbelichtung. Das eine ist die Schönheit und Wahrheit eines mehr oder weniger gelungenen Kunstwerks. Das andere ist die immer mitlaufende Distinktion eines saturiert in sich ruhenden Betriebs und der Selbstgenuss, das dezente Überlegenheitsgefühl der Pollesch- oder Schönberg-Liebhaber: Kunstkennerschaft als Abgrenzungsspiel. Heiner Müller hat das auf die brutale Formel gebracht, alle großen Kunstwerke seien "Komplizen der Macht".

In Zeiten härterer Klassenkämpfe, in denen die liberalen Eliten mit ihrem gediegenen Geschmack nicht nur wegen ihrer ökonomischen Privilegien, sondern erst recht für die Anmaßung ihrer Distinktionsspiele, ihr Monopol auf die symbolische Repräsentanz gehasst werden, kommt das Analyse-Instrumentarium aus der guten, alten Bourdieu-Hausapotheke gerade recht.

Die Abgehängten jenseits der Hipster-Bezirke haben in Polleschs Texten keinen Platz

Bei Inszenierungen von René Pollesch sorgt der Gelbwesten-Test für die schönsten Irritationen. Das liegt unter anderem daran, dass der interessanteste Regisseur seiner Generation sich genau an den auch aus Gelbwesten-Perspektive entscheidenden Fragen von Repräsentanz, Sichtbarkeit, Dominanz im symbolischen Raum und Normalitätsbehauptungen als Herrschaftsinstrument abarbeitet. Er macht das aus der Perspektive eines schwulen Feministen, der fragt, weshalb zum Beispiel keiner der heteronormativen Regie-Machos auf die Idee kommt, eine Klassikerinszenierung ausschließlich mit Frauen zu besetzen. Oder weshalb das Theater das letzte Reservat des Feudalismus ist, in dem Machtmissbrauch als Bestätigung eines albernen Geniekults durchgeht.

Das sind lauter gute Fragen. In den gemütlichen Zeiten von halbwegs fairen Teilhabe-Chancen im Sozialstaat waren es wahrscheinlich die besten Fragen, die das Theater stellen konnte. Heute wirken sie etwas zu tiefenentspannt, Postkarten aus den friedlich dekadenten Zeiten der Nullerjahre.

Für die plumperen Konflikte der Klassengegensätze und ihre brutalen Ausgrenzungsmechanismen interessiert sich Pollesch als guter Kulturlinker eher nicht so sehr. Die nicht symbolisch, sondern ökonomisch Deklassierten, die Abgehängten jenseits der Hipster-Bezirke haben in seinen Texten keinen Platz. Im Gelbwesten-Test wirkt das eigentlich großartige, schnelle, kluge, virtuose Theater von René Pollesch, das jeder geistig halbwegs wache Mensch seit etwa zwanzig Jahren liebt und bewundert, plötzlich seltsam anachronistisch und Ulf-Poschardt-kompatibel.

Als würde er spüren, dass es problematisch sein könnte, wie seine Kunst die Klassengegensätze und ihre menschlichen Kollateralschäden ausblendet, polemisiert Pollesch in seiner neuen Inszenierung "Black Maria" am Deutschen Theater Berlin gegen den Marxisten Bernd Stegemann, den Vordenker von Sahra Wagenknechts unangenehm nationalistischer "Aufstehen"-Initiative. Stegemann, ein Dramaturg, hat sich mit seiner Polemik gegen das linksliberale Juste Milieu im Theaterbetrieb nicht viele Freunde gemacht. Pollesch demonstriert mit seinen Ausfällen gegen ihn, dass jemand, der sich für Klassenkämpfe interessiert, auf den Hohn der Kulturlinken nicht lange warten muss. Diese allergischen Reaktionen sagen möglicherweise mehr über Pollesch und die blinden Flecken seiner Gesellschaftswahrnehmung als über den von ihm Attackierten.

Und wie ist nun "Black Maria", das neue Werk der Pollesch-Factory? Nun, es ist großartig - zumindest wenn man es schafft, die Befunde aus dem Gelbwesten-Test mal kurz zu vergessen. Natürlich variiert Pollesch seine alten Themen von Gender und Heteronormativität bis Regiemachtmissbrauch, von Bildproduktion bis Pop als Gegengift zur Ideologie des Authentischen, aber er macht das so lässig und lustig, dass in keinem Augenblick das Gefühl von Routine oder Resteverwertung alter Ideen aufkommt. Die Bühnen- und Kostümbildnerin Nina von Mechow beschert den Darstellern irre Bigger-than-Life-Glamour-Kostüme aus dem Stil-Fundus bester Hollywood-Ausstattungskünste - vom eleganten, eng anliegenden, mit glitzernden Blumen verzierten Vamp-Dress, ein Kleid wie eine Waffe, bis zum rustikalen Trapper-Outfit. Auf die eigentlich viel zu kleine Bühne der Kammerspiele im Deutschen Theater hat sie ein verwinkeltes, fensterloses Haus mit aufklappbarem Dach und nietenverzierten Außenwänden aus Teerpappe gesetzt. Aber es ist natürlich kein Haus, sondern das erste Filmstudio der Welt, in dem 1893 mit kurzen Filmen die dominierende Kunst des 20. Jahrhunderts ihre Anfänge nahm.

Also stolpern die vier bestens aufgelegten Schauspieler Astrid Meyerfeldt, Katrin Wichmann, Franz Beil und Benjamin Lille mit ihren hochbeschleunigten Gedanken und weiß geschminkten Stummfilmgesichtern durch die Filmfrühgeschichte, zeigen in gespielten Witzen, was ein Anschlussfehler ist, und sind gleich mittendrin in Frageknäueln von Sichtbarkeit und Bilderproduktion. Astrid Meyerfeldt, die große Herbe, die der alten Volksbühne ihre rare Mischung aus schauspielerischer Rabiatheit, trockenster Komik und Momenten zarter Empfindsamkeit geschenkt hat, spielt einen Trapper, der nach Alaska aufbricht, um Gold zu suchen. Aber wenn Meyerfeldt Sätze wie aus alten Goldrausch-Filmen sagt, denkt man bei "Alaska" natürlich an Lou Reeds "It's so cold in Alaska", also an die Kälte der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und bei dem Gold, das dieser Trapper sucht, denkt man natürlich an Liebe.

Katrin Wichmann sagt mit größter Glamour-Lässigkeit lauter Sätze, die man sofort mitschreiben und nie wieder vergessen will: "Das Leben variiert seine Attacken." Oder: "Ernsthaftigkeit ist doch die Tarnung der Trottel." Und gegen diese auch im Deutschen und anderen Theatern verbreitete Trottelhaftigkeit hilft natürlich am zuverlässigsten der Pollesch-Pop und die Freude daran, dass wir eh immer nur spielen, zum Beispiel uns selbst.

Zu den vielen guten Witzen des Abends gehört ein Gruß an die sanft entschlafene Postdramatik: "Das Drama wurde durchdekliniert bis zur Weltlosigkeit." Polleschs Performer freuen sich am gar nicht genug zu begrüßenden Knacks in der Schüssel wie der Seele ("Am Anfang war der Knacks"), offenbar eine Hommage an den Philosophen Deleuze und seinen berühmten "Knacks"-Essay. Für Lars von Triers Depressionskitsch haben sie dagegen nur Spott und den Vorschlag übrig, über seine "Melancholia"-Bilder statt Wagner-Klangteppichen einfach mal netten Lounge-Jazz zu legen. Einer der Witze, die man dann wie immer nach Pollesch-Besuchen allen Freunden und Bekannten erzählt, weil man sich so daran gefreut hat, ist ein Wortspiel: Hausbesetzer besetzen Häuser, bei Besetzungsfragen im Theater ist es umgekehrt, da wird man vom Haus besetzt.

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Quelle:
SZ vom 01.02.2019
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