Süddeutsche Zeitung

Anna-Lisa Dieter: "Susan Sontag":Weniger fühlen, mehr verstehen

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Ein ungewöhnliches Vorbild: Anna-Lisa Dieters so konziser wie klarsichtiger Essay über Ruhm und Nachruhm der ikonischen Intellektuellen Susan Sontag.

Von Aurelie von Blazekovic

Zu Ikonen ist häufig nicht mehr viel zu sagen, oft genug wurden sie beschrieben, gepriesen und kritisiert, ihre berühmten Schwarz-Weiß-Fotos gedruckt, abgeheftet und wieder zerknüllt. Susan Sontag, die 2004 verstorbene Essayistin, ist so eine, deren Name schon von Weitem schillert. Die Literaturwissenschaftlerin Anna-Lisa Dieter schreibt ihr gar zu, in den Jahrgängen von den späten Vierzigern bis in die Achtziger jede weibliche oder queere Person beeinflusst zu haben, die den Wunsch verspürt hat, intellektuell oder künstlerisch tätig zu sein. Als ungewöhnliches weibliches Vorbild.

Ungewöhnlich weniger, weil Sontag, 1933 geboren, ihrer Zeit voraus war als New Yorker Intellektuelle und bisexuelle Frau. Ihr bürgerliches Leben beendete sie sehr früh - mit 19 war sie bereits zwei Jahre mit ihrem Soziologiedozenten verheiratet und brachte den einzigen Sohn David Rieff zur Welt. Dann folgte ein freies Leben voller Glamour als Beobachterin der Kultur ihrer Zeit. Der Essay "Notes on Camp" machte sie 1964 berühmt und veränderte die Kulturkritik. Ihr dunkler Charme schuf einen Look. Ernste Miene, weiße Haarsträhne, Cowboyboots.

Aufs Ich-Sagen hat Sontag in ihren bekanntesten Texte verzichtet

Ungewöhnlich ist Sontag auch posthum immer noch, so Anna-Lisa Dieter, weil sie sich den gegenwärtigen Strömungen der Kultur so entzieht. Als schwebe sie immer noch über den Dingen. Aufs Ich-Sagen hat Sontag in ihren bekanntesten Texte verzichtet. Den Phänomenen der queeren Kultur habe sie sich dementsprechend gewidmet, ohne ihre Sexualität zu thematisieren, und über den Krebs habe sie geschrieben, ohne ihre eigene Erkrankung zu thematisieren. "Sontag war Jüdin", so Anna-Lisa Dieter, "wollte aber nicht als jüdische Schriftstellerin wahrgenommen werden. Sie war Feministin, ohne sich zum Feminismus zu bekennen."

Die Reclam-Reihe "100 Seiten" arbeitet mit Listen, Illustrationen und anderen kurzweiligen Elementen. Beim Thema Susan Sontag ergibt das Sinn. Sontag erstellte in allen Lebenslagen Listen. Als 14-Jährige formulierte sie ihre Überzeugungen in dem Format ("Ich glaube: a) dass es keinen persönlichen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt" ...), später Eigenschaften, die sie an Menschen anziehen ("jemand, den ich liebe, muss mindesten zwei oder drei davon haben"). Auf der beachtlichen Liste ihrer Liebschaften stehen neben anderen Prominenten auch Robert Kennedy, die Fotografin Annie Leibovitz und der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky. Anna-Lisa Dieter hat ebenso Listen erstellt: Verbringen Sie einen Samstag à la Sontag (7 Uhr: Sie wachen auf und empfinden Wut).

Wütend wurde Sontag, heißt es, wenn man sie Jahrzehnte später immer noch auf die Bedeutung ihres berühmtes Essays "Notes on Camp" ansprach. Bis zu ihrem Tod habe sie geglaubt, dass ihre besten Werke noch vor ihr lägen. Gegen den Krebs wehrte sie sich mit beinahe verstörender Vehemenz. Ihr Wunsch, lebendig zu bleiben, habe sich in ihren letzten Jahren noch verstärkt, schreibt Dieter. Gerade das mag so anziehend sein an Susan Sontag: ihre Intensität und ihr Verlangen nach Leben.

Der kurze Band thematisiert auch, wie Sontag zunehmend zur Antikriegsaktivistin wurde. Ihr letzter Essay "Das Foltern anderer betrachten" erschien wenige Monate vor ihrem Tod im Dezember 2004 im Magazin der New York Times. Dort beschrieb Sontag, was ihrer Ansicht nach immer mehr zum "wahren Wesen" und "wahren Herzen" Amerikas werde: Internetpornographie, Unterhaltung durch Gewalt, eine bestimme Vorstellung von Spaß, die mit Brutalität einhergehe. Fotos, die das Leid, das sich Menschen antun, belegen, beschäftigten Sontag, seit sie als Zwölfjährige, 1945 in einer Buchhandlung in Santa Monica, Fotos aus den Konzentrationslagern in Bergen-Belsen und Dachau sah.

Anna-Lisa Dieter gelingt es so, auf knappsten Raum eine echte Essenz von Sontags Werk zu präsentieren, mit besonderem Augenmerk auf die Texte, die sich als Kommentare zu unserer Gegenwart lesen lassen. Etwa Sontags Kritik der öffentlichen Empathie: "Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht." Man müsse weniger fühlen, dafür mehr wissen und verstehen.

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