Süddeutsche Zeitung

Sportwagen aus Lego:Von null auf zwanzig in einer Million Klötzchen

Lesezeit: 3 min

Von Gerhard Matzig

Die Musik zum Clip, kürzlich auf Youtube hochgeladen, ist von jener testosteronhaltigen, suggestiv spannungsgeladenen Machart, wie sie Hollywood gern hat. Etwa, wenn es zum Showdown kommt. Wenn es nur noch einen geben kann. Wie jetzt, wo aus dem Dunst über einem Meer aus Asphalt und unter einem Horizont benzingetränkter Erwartung der Bolide erkennbar wird. Eine Kamera umschleicht das Fahrzeug so ehrfürchtig, wie man sich einer Skulptur nähern würde. Männer in dunklen Overalls überprüfen ein letztes Mal den veloziferischen Traum. Der Motor wird gecheckt. Dann das Cockpit.

In dieses hievt sich jetzt der Testpilot Andy Wallace. Wie es sich gehört - nämlich mit dem Hintern voran. Sportwagen fährt und lenkt (und begreift) man nicht mit den Füßen, den Armen oder dem Hirn. Sondern mit dem Hintern. Und dieser hier, der Bugatti Chiron, ist der Supersportwagen. Wallace, Brite, Rennfahrer, Le-Mans-Gewinner und Bugatti-Testpilot, überprüft den Sitz seines Helms. Fertig. Gleich wird ein röhrendes Wrrrrooooaaaaar zu hören sein. Und dann wird man denken, man sei gerade vom Warp-Antrieb in "Star Trek" umgeblasen worden.

Hier soll - für die Jünger von Tempo, Wahnsinn und Raserei sowie für die Freunde von Ingenieurskunst und Motorenbaukultur - nur dies gesagt sein: Der Doppel-V-Motor mit zwei VR8-Zylinderbänken bringt 1500 PS auf die Straße. Der Chiron, benannt nach dem monegassischen Rennfahrer Louis Chiron, benötigt nur 41,96 Sekunden. Allerdings von null auf 400 und wieder zum Stillstand. Von null auf hundert Sachen sind es etwa zweieinhalb Sekunden. Der Bugatti Chiron ist das schnellste und luxuriöseste Sportauto, das je in Serie gebaut wurde. Wobei die Serie anfänglich auf fünfhundert Stück limitiert wurde, damit nicht Hinz und Kunz anfangen, auf die rund zweieinhalb Millionen Euro zu sparen, die das Auto kostet. Ohne Extras und Steuern, versteht sich.

Abgeregelt ist auch die Höchstgeschwindigkeit. Seriell auf 380 km/h. Wobei man mit einem Extra-Fahrzeugschlüssel, dem "Speed Key", noch auf 420 und rechnerisch sogar auf 463 Stundenkilometer beschleunigen kann, weshalb der Tacho im Chiron auch bis zur Ziffer 500 reicht. Das ist schon extrem herrlich. Leute, legt eure Porsche- oder Lambo-Schlüssel mal lieber nicht auf den Tresen. Gegen den Speed Key von Bugatti schrumpfen eure Macho-Gesten auf Twingo-Größe.

Der Lego-Rennwagen lehrt Schildkrötendandys das Fürchten

Gerade deshalb wurde der eingangs erwähnte Clip schon hunderttausendfach geklickt. Er stammt nämlich von Lego und zeigt einen Bugatti Chiron, der im Maßstab eins zu eins realitätsgetreu aus mehr als einer Million Lego-Technic-Teilen nachgebaut wurde. So unrealistisch sich das anhört: Es erscheint doch realer als der Ankauf eines echten Chiron. Allerdings ist es der womöglich noch echtere Andy Wallace, der mittlerweile 57-jährige Bugatti-Experte, der den Lego-Nachbau steuert. Was ziemlich lustig ist, denn Wallace sitzt im Cockpit, nestelt am Visier und bringt dann den lebensgroßen, garantiert klebstofflosen, also gemäß der Philosophie des dänischen Spielsteinherstellers "gesteckten" und "vernoppten" Lego-Bugatti an dessen Grenzen. Und das sind - angetrieben von immerhin 2304 Lego-Motoren und 4032 Getriebezahnrädern . . . nun, es sind, alles in allem, nach oben gerundet . . . es sind, hüstel, 20 Kilometer pro Stunde. Trotzdem wackelt der Rückspiegel auf fast schon bedenkliche Weise. Wallace guckt entschlossen auf die schier unendliche Rennpiste. Etwaige Hindernisse würde er bei diesem Tempo Stunden, ja Tage bis Wochen und Monate vor dem Zusammenstoß entdecken.

Wenn aus dem Wrrrrooooaaaaar des Originals das Ötlötlötl des Nachbaus wird, darf man sich angesichts eines dahinzockelnden Ex-Rennfahrers in den Diensten eines Spielwarenherstellers an die Dandys der frühen Moderne erinnern. Sie demonstrierten ihre Herrschaft über die Zeit einst durch das Spazierenführen von Schildkröten an der Leine. Doch schon 1909 machten sie sich das futuristische Manifest zu eigen, in welchem Marinetti, ein verkappter Frühnazi, den Rennwagen neben dem Krieg als "neue Herrlichkeit der Welt" pries. Er beschwor einen Rausch der Geschwindigkeit herauf, da "die Hunde auf den Straßen" von Autos "wie Hemdkragen von Bügeleisen" geplättet würden.

In seiner Kulturgeschichte von Sportwagen - "Über Sportwagen" - geht Ulf Poschardt einer Vorhersage Marshall McLuhans nach, der schon vor einem halben Jahrhundert einzig im Sportwagen die Zukunft des ansonsten - im Alltagssinn der Mobilität - fragwürdig und überflüssig werdenden Autos erblickte. Nun, da es so weit ist, da die aggressiv verfetteten SUV die verstädterte Gesellschaft zustauen und Automanager per Haftbefehl gesucht werden, während sich zunehmend führerscheinlose Menschen in den urbanen Zentren über Dieselschwaden und Pendlerirrsinn wundern, bringt es ein Lego-Bugatti, der unter den Sportwagen der Welt die neue Slow Culture abbildet, auf den nahezu ruhenden Noppenpunkt. 20 km/h (in der Spitze, mit angelegten Ohren) definieren das neue Ideal einer delirierend dynamistischen Moderne. Das ist nicht schnell genug für ein ambitioniertes Fahrrad. Aber die Schildkrötendandys hängt man immer noch ab.

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SZ vom 12.09.2018
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