Süddeutsche Zeitung

Festival:Hingeschaut

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Das Theaterfestival "Spielart" in München ist internationaler denn je. Welche Wohltat.

Von Egbert Tholl

Während die Musik weiterläuft, als wäre sie ein einziger, nie endender Song, während die Musiker ihre traditionellen Instrumente und auch eine E-Gitarre mit stoischer Virtuosität bedienen, während alle und vor allem die beiden Frauen in diesem schwarzen Ensemble in schillerenden Farben singen, schreitet der weiße Mann durch den Raum. Er trägt eine Frackjacke und Stiefel, ansonsten ist er nackt. Peter van Heerden ist in diesem Moment blanke Irritation, ist Macht und Gewalt, ein Fremdkörper. Er geht in den Nebenraum, welcher ebenso voll mit Publikum ist, zieht das Gerüst eines Reifrocks an, schminkt sich das Gesicht weiß, setzt eine höfische Perücke auf, wird vollends zum Popanz, ist in diesem Moment Richter, Queen Victoria und Cecil Rhodes, der die Gegend, die nach ihm als Kolonialstaat Rhodesien hieß und heute Simbabwe ist, unterjochte. Mit huldvoller Geste wendet er sich zum Publikum, singt, sehr falsch, "God save the Queen", und Nora Chipaumire starrt ihn an, ungerührt, aber mit brodelnder Wut in ihrem Inneren.

Am 22. Oktober begann das "Spielart"-Festival in München, das größte internationale Theaterfestival seit dem Lockdown. Sophie Becker, seine Leiterin, hatte Glück; das Festival findet seit 1995 alle zwei Jahre statt, zuletzt im Herbst 2019, als noch niemand etwas von Corona ahnte, und eben jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem die Zuschauer größtenteils tatsächlich wieder kommen können und die Künstler aus entlegenen Kontinenten auch. Dennoch war es wohl schwierig, das Programm mit etwa 40 Produktionen Indien und vielen Ländern Afrikas, aus New York und Tokio, aus Basel und Manila, aus Peking und Rio de Janeiro zusammenzustellen. Einige Gruppen - "Spielart" ist ein Festival der freien Szene - hatten sich im Lockdown aufgelöst, andere ihre Arbeit eingestellt, wieder andere konnten noch nicht reisen. Nun gibt es auch einige Hybrid-Formate, Filmisches, Digitales. Im Kern aber, so Becker, sei es schon das Festival, das sie machen wollte.

Eine zwölfteilige Oper mit dem Sound von Afrika

"Spielart" war schon immer dezidiert international, doch in den vergangenen zwei Ausgaben schärfte Sophie Becker, zunächst als Ko-Leiterin neben Tilmann Broszat und nun alleinige Chefin, den Blick auf das außereuropäische Theater. Zu Themen, mit denen sich auch Theater hierzulande beschäftigen - Genderdiskussion, Geschlechterrollenbilder, Integration und Inklusion - kommt so die theatralisch aufregend geführte Debatte um Kolonialismus und dessen Folgen, um Neokolonialismus und die Ausbeutung vieler Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien durch multinationale Unternehmen hinzu. Und da passt Nora Chipaumire mit ihrer Produktion "Nehanda", die das Festival miteröffnete, wunderbar hinein.

Geboren 1965 im damaligen Rhodesien (Simbabwe wurde 1980 unabhängig) arbeitet Chipaumire seit mehr als 20 Jahren international. Eine ihrer jüngsten Unternehmungen trug, frei übersetzt, den Titel "Hashtag Punk, einhundert Prozent Pop, Star Nigga", da ahnt man schon, was einem blüht. "Nehanda" wird, wenn die Produktion vermutlich 2023 komplett fertig ist, eine zwölfteilige Oper sein, mit dem Sound Afrikas, voller Wut und der Hoffnung auf eine echte afrikanische Emanzipation. Drei Teile sind bei "Spielart" im Haus der Kunst zu sehen, die Geschichte dahinter ist der Kampf der Einheimischen gegen Rhodes und die britischen Kolonialherren, der ein Geheimnis innewohnt: Nehanda, eine Art spirituelles Prinzip, suchte sich als Medium Charwe Nyakasikana, die 1896 Aufstände gegen die fremden Herrscher anzettelte, von diesen gefangen genommen und grausam aufgehängt wurde. Ausgehend von den Prozessakten entwirft Chipaumire mittels eines inszenierten Konzerts Anklage und die Idee kultureller Selbstbestimmung, mit irrsinniger Wucht. In einem Raum prangt ein Foto der Aufständischen an der Wand, im anderen ein Bild der Berliner Konferenz, bei der 1884 die Reste Afrikas unter den europäischen Mächten verschachert wurde. Und in beiden Räumen hallt der Zorn nach: "Pay us for the harm you have caused us." Bezahlt für das, was ihr uns angetan habt.

Nach 13 Produktionen in den ersten sieben Festivaltagen gibt es keinerlei Chance, auch nur annähernd die Fülle des Angebots wiederzugeben. Erstaunlich ist: Eine einzige Aufführung ist Mist. Die anderen sind entweder brillant, wie etwa "Madama Butterfly" von Satoko Ichihara, die die Motive von Puccinis Oper ins Japan der Gegenwart überträgt. Andere sind ungemein erhellend oder auch gänzlich anrührend wie das Solo von Sorour Darabi, einem trans Menschen aus Iran, der mit zerbrechlicher Schonungslosigkeit das Dilemma schildert, normal wahrgenommen werden zu wollen, aber stets sich entscheiden muss zwischen seinem Sein, dem Spiel mit diesem und dem Reden darüber.

Es gibt hier ein Tanzstück, das mit somnambulen Nachtmahren die Grenze zwischen Mexiko und den USA erkundet ("Danza y frontera"), eines, in dem von ungeheuer witzigen Bewohnern der Favelas von Rio de Janeiro körperlich umwerfend Geschichten von der Sehnsucht nach Individualität und Gemeinschaftssinn erzählt werden ("Cria"), man erfährt (sehr umständlich) vom Raubbau eines japanischen Konzerns in Chile, wo die Erzgewinnung Land und Leute vergiftet ("How to turn to stone") und sieht fünf Männern zu, die in aberwitziger Choreografie zwischen den Geschlechtern changieren ("L' Homme rare"). Vor allem aber wird man immer wieder mit der Unzulänglichkeit des mitteleuropäisch zentrierten Blicks konfrontiert und kriegt von selbstbewussten, selbstbestimmten Künstlern die eigenen Klischees um die Ohren gehauen.

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