Süddeutsche Zeitung

Uraufführung in Düsseldorf:Zwei Stunden recht haben

Lesezeit: 3 min

Ein tabellarischer Überblick aller Motzki-Themen der jüngeren Vergangenheit: Sibylle Bergs "GRM Brainfuck" am Düsseldorfer Schauspielhaus.

Von Alexander Menden

Der Brexit ist vollzogen, das Vereinigte Königreich ein techno-totalitäres System, mit Totalüberwachung bis hin zum den Urin-Basen-Haushalt überprüfenden K.I.-Klosett, Wohlverhalten, das mit Sozialpunkten belohnt, Fehlverhalten, das mit Entzug des Lebensnotwendigsten bestraft wird. Zwei verstrahlt-permaglückliche Figuren in Himmelblau, dargestellt von Gabriela Maria Schmeide und Tim Porath, berichten per Livestream auf einem rotierenden LED-Bildschirm von einer Zeit, in der alle so überfordert waren durch die rasenden technischen Veränderungen, die Erosion der Gewissheiten und die immer größer klaffenden Gesellschaftsspaltungen, dass sie schließlich korrupte Idioten zu ihren demokratisch gewählten Staatschefs machten und damit das Ende der eigenen Freiheit besiegelten.

"GRM Brainfuck", eine Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater, ist eine Uraufführung und schließt zugleich das Wander-Festival "Theater der Welt" ab. Dessen diesjährige Ausgabe fand am Düsseldorfer Schauspielhaus statt und legte erstmals einen Schwerpunkt auf den Bereich des Jugendtheaters. Inwiefern die Adaption des gleichnamigen, mit dem Schweizer Buchpreis bedachten Sibylle-Berg-Romans unter der Regie von Sebastian Nübling sich vornehmlich an ein junges Publikum richtet, ist nicht leicht zu eruieren. Der sich in Rotzigkeit und panzernde Ironie (das fängt bereits beim Untertitel "Das sogenannte Musical" an) kleidende, kulturpessimistische Grundton des Ganzen wirkt jedenfalls mindestens mittelalt.

Generation Z, die digital natives, die sich nicht länger als zwei Minuten konzentrieren können, hört man unter anderem, haben "alles, was sie wissen, im Netz gelernt". Heißt das: Internet macht doof? Oder ist das auch Ironie? Das Kernproblem der in ihren nicht einmal zwei Stunden Spieldauer fortwährend auf der Stelle tretenden Produktion liegt darin, dass einem die Antwort auf derart spitzfindige Fragen ebenso gleichgültig bleibt wie die weitgehend entindividualisierten Figuren.

Die Gegenwart hat Sibylle Bergs Dystopie wenn nicht überholt, so doch ergänzt

Die sechs verarmten, ausgegrenzten jugendlichen Protagonisten, die sich weigern, ihren "vorgesehenen Platz als Abschaum einzunehmen", betrachtet das Stück fast nur aus der Draufsicht. Allein in einer Passage, der mit Abstand interessantesten, lösen sich einzelne Gestalten aus der Gruppe, kapern den LED-Bildschirm vorübergehend und berichten von ihrer Geschichte als polnisches Einwandererkind oder als Ex-Streberin, die ihr schöner, aber etwas dummer Freund an die Flasche gebracht hat.

Die Themen des Romans - Themen, die Sibylle Berg wiederholt aufgegriffen hat - sind erhalten geblieben: Datenüberflutung, Bedrohung durch künstliche Intelligenz und eine Marktfreiheit, die nur dazu dient, "den Reichen beim Freisein zuzusehen". Ebenso erhalten geblieben ist der derzeit extrem beliebte Kunstgriff, eine nahe Zukunft - in diesem Fall England - zum Schauplatz für Gegenwartskritik zu machen (siehe "Black Mirror", "Westworld" etc.).

Der Roman erschien aber im April 2019. Da wurde über den Brexit noch gestritten, als wäre noch etwas daran zu ändern, und "Pandemie" war für die meisten Menschen der Name eines Gesellschaftsspiels. Das heißt, die Gegenwart hat die hier gezeigte fiktive Zukunft wenn nicht überholt, so doch um Elemente ergänzt, die in der düsteren Bestandsaufnahme nun merklich fehlen.

Bergs Sprache sehnt sich nach Leichtigkeit, wirkt aber seltsam gehemmt

Sebastian Nübling bleibt seinem Stilmittel des chorischen Sprechens treu. Es macht die in der Romanvorlage klar differenzierbaren Jugendlichen zu einer Art labilen, wütend tanzenden, handy-tippenden Fundamentalopposition, deren revolutionärer Furor allerdings ins Leere geht. Die Desinformationswelt, in der das alles nominell spielt, symbolisieren Bilder wie das eines Donuts, dessen gesunder Nährwert angepriesen wird. Selbst ein George-Orwell-Zitat schleicht sich kurz ein, Riesen-Bildschirm-Augen als Big-Brother-Beobachtungsinstrument. Streckenweise wünscht man sich allerdings fast George Orwells 1984-Zukunftsvision von einem Stiefel herbei, der unaufhörlich auf ein Gesicht stampft - nur, damit mal was passiert.

Dass das Ganze mit einem von der Londoner Ruff Sqwads Arts Foundation gelieferten Grime-Soundtrack unterlegt ist, dass sich die jungen Darsteller im ballonseidenen Prekariatslook die Seele aus dem Leib deklamieren und krumpen, unterstreicht nur die Biederkeit des Ganzen. Bergs Sprache sehnt sich merklich danach, sich der Schwere zu entledigen, die deutsche Entsprechung eines urbanen Englisch mit street cred zu sein, wirkt mit ihren eingestreuten "What the fucks" aber nur seltsam gehemmt.

Natürlich bleibt bei einem sich seiner selbst so bewussten Stück nicht aus, dass es auch die Dystopie thematisiert, die es angeblich gar nicht sein will: "Dystopie ist das Ding der letzten Jahre!", sagen die Chorsprecher. Das hier aber sei eben wirklich, "The Walking Dead" in echt. Und was ist von dem Spruch der jungen Nicht-Revoluzzer zu halten, Zukunftsangst sei "ein Hobby der Alten, die ohnehin keine Zukunft mehr haben"? Ist das eine Schutzbehauptung? Oder hat da vielleicht einfach niemand mal echte Jugendliche gefragt, ob sie Angst vor der Zukunft haben oder nicht?

Wäre "GRM Brainfuck" die selbstgemachte Inszenierung einer Oberstufen-Theatergruppe, die nach der Lektüre von Aldous Huxleys "Brave New World" im Englisch-Leistungskurs dazu ermutigt worden ist, doch einfach mal kritisch über Digitalisierung, Populismus, Konsum-Totalitarismus und so nachzudenken: man wäre einigermaßen beeindruckt, vor allem von all dem Geld, das da investiert wurde. So aber wirkt der Abend wie ein tabellarischer Überblick aller Motzki-Themen der jüngeren Vergangenheit, beschrieben aus einer Lehnstuhlkritikerhaltung, die ungefähr so zeitgemäß erscheint wie Dabbing oder der Floss-Tanz: Gerade vorbei und deshalb besonders verspätet.

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