Süddeutsche Zeitung

Russland:Mit Essen spielt man nicht

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Bulldozer gegen europäischen Camembert: Dass Wladimir Putin westliche Lebensmittel vernichten lässt, geht selbst seinen Anhängern zu weit. Der Respekt der Russen vor Lebensmitteln hat tiefe Wurzeln.

Von Tim Neshitov

Verwächst ein Politiker derart mit seinem Volk wie Wladimir Putin mit dem russischen, werden seine Amtshandlungen zu historischen Taten. Egal, ob er eine Molkerei besucht, einem Kind den Bauch küsst oder in einen Ultraleichtflieger steigt und Kranichen hinterher fliegt (um auf eine bedrohte Vogelart aufmerksam zu machen): Jede Tat wird mythisch bis mystisch aufgeladen. Putin ist längst mehr als ein Staatschef, er ist ein höheres Wesen.

Einiges von dem, was er tut, ist tatsächlich epochal. Die Annexion der Krim war ein tiefer Eingriff in die Volkspsyche. Dieselbe Wucht hat nun sein Erlass, westliche Lebensmittel zu vernichten, die an Sanktionen vorbei ins Land gelangen. Dies ist mehr als Sanktionspolitik, mehr als ein Sanktionskrieg. Es ist ein Tabubruch, womöglich gar eine zivilisatorische Zäsur. Denn Essen hat in der russischen Kultur eine Bedeutung, die über das Kulinarische hinausgeht. Eine Tafel ist ein Ort der Begegnung, hier findet Leben statt. Das ist in vielen Ländern so.

Hitler hungerte Leningrad aus. Die Zahl der Toten kennt heute jedes Kind

Aber in der neueren russischen Geschichte ist Essen schlichtweg heilig. Man fährt nicht mit einem Bulldozer über einen Haufen Käse, wie dies gerade medienwirksam mal in Omsk, mal in Moskau, mal auf der Krim geschieht. Man verbrennt nicht Tonnen von Schweinefleisch. Das tut man einfach nicht.

Die russische Gesellschaft ist zwar gespalten, aber es gibt immer noch einfache Konventionen, über die es keine zwei Meinungen gibt: Dazu gehört, dass man nicht in der Nase bohrt und dass man Essen respektiert. Man nimmt auch am Tisch seine Kopfbedeckung ab und lässt kein Essen auf seinem Teller liegen. Man isst auf. Oder nimmt's mit. Man bewirft sich nicht mit Essen, auch wenn das vielleicht Spaß machen würde. Natürlich gibt es Ausnahmen, vor allem bei Jüngeren, aber Nasenbohrer wird es ja auch immer geben.

Die Gründe für den russischen Respekt vor Nahrungsmitteln sind derart offensichtlich, dass man sich fragt, ob Putin mit seinem Erlass nicht versucht, seine zuletzt Kim-Jong-Un-haft gestiegenen Umfragewerte etwas zu senken. Um eine Distanz zu seinem Volk herzustellen.

Putin kommt aus Leningrad, einer Stadt, die Hitler vor nicht allzu langer Zeit mit der Waffe des Hungers vernichten wollte. Hitler wollte Leningrad nicht mit Gefechten einnehmen, sondern dafür sorgen, dass die 3,2 Millionen Einwohner verhungern. Er ließ die Stadt belagern.

Heute heißt Leningrad Sankt Petersburg, aber Kinder wachsen hier immer noch mit zwei Zahlen auf: 800 000 und 125. Die erste ist die geschätzte Zahl der Toten während der Belagerung. Die zweite bezieht sich auf die tägliche Brotration von damals. "125 blokadnich gramm, s ognjem i krowju popalam." 125 Blockade-Gramm, mit Feuer und Blut gemischt. Diese jedem Kind bekannten Zeilen der Dichterin Olga Bergholz bringen viele Petersburger bis heute zum Schweigen und einige zum Weinen. Bergholz überlebte die Belagerung.

Die Petersburger demonstrieren derzeit. Sie halten am Newskij Prospekt, der Hauptstraße, Schilder hoch: "Die Vernichtung von Lebensmitteln ist eine Sünde und eine Schande." Da Menschenansammlungen tendenziell von Sonderpolizisten auseinandergeprügelt werden, lösen sich hier einzelne Demonstranten ab. Sie stehen vor dem Haus Nummer 14, an dessen Fassade seit dem Winter 1941 der Hinweis hängt: "Achtung! Bei Artilleriebeschuss ist diese Straßenseite am GEFÄHRLICHSTEN." Man hat die Warntafel nach dem Krieg nicht abgeschraubt, zur Erinnerung.

Vergangene Woche wurden in Sankt Petersburg an einem Tag 240 Kilogramm Schweinefleisch aus Litauen und 500 Kilogramm Käse aus Deutschland verbrannt, direkt am Flughafen, es gibt da einen großen Müllofen. Die Behörde, die mit der Ausführung des Erlasses betraut ist, trägt den Namen Rosselchosnadzor, das ist eine Abkürzung für "Russische Agrarwirtschaftsaufsicht" und klingt auf Russisch nicht weniger alttestamentarisch als auf Deutsch. Rosselchoznadzor gibt sich Mühe, die Lebensmittelbekämpfung penibel zu dokumentieren, das Amt veröffentlicht regelmäßig Berichte, versehen mit Foto- und Videomaterial. Die Sprache ist martialisch. Schinken, Pfirsiche, Tomaten, Käse - alles wird "vernichtet", als handle es sich um Pestratten oder um ukrainische Faschisten.

Es wird nicht nur in Petersburg protestiert, eine Onlinepetition gegen Putins Erlass wurde bereits von mehr 350 000 Menschen unterschrieben. Sie fordern, dass beschlagnahmtes Essen an Bedürftige verteilt wird. So viele Unterschriften kriegt heute kein Oppositioneller zusammen. Essen eint, denn es ist nicht nur die kollektive Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, die den Kampf Bulldozer vs. Camembert besonders bizarr erscheinen lässt. Die Menschen erinnern sich gut an die wilden Neunziger, als Brot und Zucker rationiert und Fleisch und Käse zeitweise gar nicht vorhanden waren.

Das staatliche Statistik-Amt meldet, dass im vergangenen Jahr 11,2 Prozent der russischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten, darunter viele, die als Kinder den Krieg überlebt hatten. Die Armutsgrenze liegt bei 9662 Rubel, umgerechnet 138 Euro. Auf einem Plakat der Petersburger Demonstranten steht: "In den Tuberkulose-Kliniken kriegen die Kinder kein Obst, nur an Feiertagen, je zwei Stück." Auch von der frisch annektierten Krim bekommen die Kinder offenbar kein Obst.

Man kann nicht behaupten, es gebe heute eine russische Küche, so wie es die italienische oder die türkische gibt. Borschtsch, Pelmeni und Heringsalat ("Hering im Pelzmantel") gibt's nicht nur in Russland, sondern überall in Ost- und Mitteleuropa, auch bei den bösen Ukrainern. Außerdem essen viele Russen das Zeug gar nicht. Die russische Tafel ist eklektisch. Heute kommt sie kaum ohne Käse, Obst, Fleisch- und Milchprodukte aus dem Westen aus. Es ist ein Schwarzmarkt entstanden, dessen Ausmaß keiner kennt.

Der Präsident fährt ein deutsches Auto. Isst er wirklich Käse aus dem eigenen Land?

Am 5. August, einen Tag bevor in Russland der besagte Erlass in Kraft trat, wurde in Washington, fußläufig zum Capitol, ein Holodomor-Denkmal eröffnet. Holodomor heißt auf Ukrainisch "Hungertod". 1932/33 verhungerten in der sowjetischen Ukraine mehrere Millionen Menschen, und es ist typisch für Stalins Verbrechen, dass man nicht weiß, wie viele genau. Es gibt Historiker, die Holodomor als Völkermord bezeichnen. In der Sowjetunion wurde diese staatlich herbeigeführte Hungersnot jahrzehntelang verschwiegen, und in Putins Russland wird ihrer Opfer nicht gedacht. Die Tatsache, dass 1932/33 jenseits der Ukraine weitere Millionen Sowjetbürger verhungerten, allein in Russland mehr als zwei Millionen, ist nicht Teil der staatlichen Erinnerungspolitik.

Ernährt sich Putin nun ausschließlich von russischen Lebensmitteln? Isst er im Kreml russischen Käse, der sich beim Kauen wie ein Autoreifen anfühlt und im Abgang nach Knetmasse schmeckt, oder nach gar nichts, je nach Sorte?

Vermutlich soll die öffentliche Hinrichtung westlicher Fressalien einen innenpolitischen Zweck erfüllen: den Hass auf alles Europäische steigern. Das tut den Umfragewerten gut. Normalerweise. Es stört das Volk dabei nicht, dass Putins Dienstwagen ein Mercedes Pullman bleibt und dass sein Sprecher am Handgelenk eine Richard Mille für 500 000 Euro trägt. Im Westen leben lauter Faschisten und Pädophile, aber die machen halt auch gute Autos. Das Vernichten von Essen geht Putins Russen allerdings eindeutig zu weit.

Alexander Tschajanow, der Vater der russischen Agrarwissenschaft, meinte, die Russen seien anderen Völkern überlegen, weil sie Hunger gewohnt seien ("Es siegt, wer zu hungern versteht.") In den Zwanzigerjahren stellte sich Tschajanow jedoch gegen Stalins Kollektivierung, denn er sah die Hungerkatastrophe von 1932/33 voraus. Stalin ließ ihn erschießen.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2015
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