Süddeutsche Zeitung

Ruhrtriennale:Schüchterner Start

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Die Ruhrtriennale beginnt mit den "Mysteriensonaten" und "Ich geh unter lauter Schatten". Alle, die hier singen oder Musik machen, tun dies wirklich außerordentlich gut. Trotzdem ist der Auftakt eine Enttäuschung.

Von Egbert Tholl

Seit 20 Jahren gibt es die Ruhrtriennale, und so schüchtern begann sie noch nie. Das Festival für Bühnenkünste aller Art ist das größte Ausrufezeichen für den Strukturwandel im Ruhrgebiet, es findet an vielen Orten statt, wo früher Kohle gefördert und Stahl hergestellt wurde. Eines seiner Zentren ist die Jahrhunderthalle in Bochum, ein riesiges Industrierelikt. Legendärer Budenzauber der herrlichsten und immer wieder avancierten Art entstand hier, in jüngerer Zeit unter Johan Simons und Stefanie Carp, der renitenten und politisch etwas ungeschickten Vorgängerin der aktuellen Intendantin Barbara Frey.

Jetzt spielt Julia Galic Geige. Allerdings nicht in der Jahrhunderthalle, sondern ums Eck in der Turbinenhalle. Ganz allein ist sie nicht, sie wird begleitet von Thorsten Bleich an der Theorbe und Jens Wollenschläger an der Orgel und am Cembalo, zusammen spielen sie ein Drittel der "Mysteriensonaten" von Heinrich Ignaz Franz Biber, die auch unter dem Namen "Rosenkranzsonaten" bekannt sind. Vordergründig sind das hochvirtuose Violinsonaten, im Kern aber sind sie ein auskomponiertes Weltgebäude, voller Zahlenmystik und mathematischer Verflechtungen, als rein instrumentale Vertonung der Rosenkranzgebete ein hypertrophes Werkzeug der Gegenreformation. Jede Sonate erfordert eine andere Stimmung der Geige, das nennt man Skordatur und erhöht das Klangspektrum. Julia Galic hat deshalb vier Geigen dabei für fünf Sonaten und die abschließende Passacaglia, das Umstimmen würde zu lang dauern.

Das Konzert ist ein hübscher, einstündiger Auftakt des Festivals, mehr nicht. Galic spielt beflissen akkurat, den den Stücken innewohnenden Irrsinn kann man kaum erahnen. Doch das anämische Trio agiert in einem tollen Setting, im Hintergrund befinden sich mächtige Turbinen wie schlafende Industrieriesen. Die Idee hinter diesem Beginn: Gleichzeitig werden an ähnlichen Orten in Duisburg und Essen jeweils ebenso fünf der insgesamt 15 Sonaten gespielt, weshalb man im Programmheft von einem "dezentralen Resonanzraum" lesen kann, den es aber nicht gibt, weil man von den Konzerten an den anderen Orten überhaupt nichts mitkriegt. Doch im Hinblick auf die semantischen Wolken echt abgedrehter Dramaturgenlyrik, die sich begleitend zum dann Kommenden auftürmen, ist der "Resonanzraum" eine geradezu schmallippige Beschreibung.

Sein soll dies ein Musiktheaterabend. Das ist es nicht

Jenes Kommende heißt "Ich geh unter lauter Schatten" und ist die eigentliche Eröffnungsproduktion der Ruhrtriennale. In der Jahrhunderthalle. Doch seltsam: Man glaubt die ganze Zeit, hier läge eine Verwechslung vor. Vielleicht auch keine Verwechslung, sondern eine Corona-Verschiebung. Doch sollten die "Schatten" Ersatz für irgendetwas nicht Stattfindendes sein, dann standen sie schon früh als ein solcher fest. Nur fällt einem beim besten Willen nicht ein, warum das so sein muss. Abgesehen davon, dass alle, die hier singen oder Musik machen, dies wirklich außerordentlich gut machen. Doch sein soll dies ein Musiktheaterabend. Das ist es nicht.

"Ich geh unter lauter Schatten" vereint fünf Werke von vier Komponisten, die allesamt als sturköpfige Vertreter eines ganz eigenen Stils gelten dürfen, die die herrschenden Schulen ihrer Zeit, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, bestenfalls als Hindernisse der eigenen Individualität betrachteten und ganz großartige Musik schrieben. Allerdings: Die hier vereinten Stücke sind fragile Gebilde, sie brauchen viel Zuwendung, löst man sie aus einem reinen Konzertzusammenhang. Fürsorge scheint an diesem Abend aber nicht das herausragende Merkmal der Regisseurin Elisabeth Stöppler zu sein. Vielmehr überführt sie in Zusammenarbeit mit dem in dieser Hinsicht als kongenial zu apostrophierenden Bühnenbildner Hermann Feuchter und der diesem kaum nachstehenden Kostümbildnerin Susanne Maier-Staufen die zarten Zauberstücke in ein plumpes, esoterisch raunendes und permanent dunkel dräuendes Gefüge, das nichts erzählt, nicht berührt und einem insgesamt vollkommen egal sein kann.

Im Kern stehen die "Quatre chants pour franchir le seuil" von Gérard Grisey, vier Gesänge über den Tod, die Worte entlehnt aus vier Kulturkreisen, endend mit dem "Tod der Menschheit", hochaktuelles Menetekel von Untergang der zerstörten Natur, Fundstück aus dem Gilgamesch-Epos. Vier großartige Sängerinnen lässt Köppler bedeutungsschwanger über Stahlstege schreiten, die graugewandeten Lemuren des Chorwerk Ruhr singen traumhaft schön, das Klangforum Wien spielt barfüßig und unter Peter Rundel fast schon irritierend perfekt. Doch was hilft es, wenn Ausgeburten szenischer Einfallslosigkeit bei Griseys Schlagzeugstück "Tempus ex machina" die Musiker ans weit entfernte Ende der Halle verbannen, man bei Giacinto Scelsis Wunderwerk "Okanagon" kaum erahnen kann, dass da jemand spielt, Claude Viviers und Iannis Xenakis' zwölfstimmige Chorstücke nur noch zur geistlos arrangierten Tünche taugen wie das blümerante Stimmungslicht?

Konkrete Schönheit gibt es vor der Halle. Drei große Schaufelbagger führen Disput, klappern mit den Schaufeln, schnaufen. Das anrührende Bild der Technik schuf die Künstlerin Katja Aufleger. Vielleicht geht damit die Ruhrtriennale erst wirklich los.

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