Süddeutsche Zeitung

Rassismus:Der Kampf um den Westen und seine Ideale geht weiter

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Der neuzeitliche Rassismus ist die Kehrseite eines idealistischen, aber weißen Projekts: dem Universalismus des Westens. Die Folgen dieser Erblast sind bis heute nicht überwunden.

Kommentar von Gustav Seibt

Das Übergreifen der amerikanischen Proteste gegen rassistische Polizeigewalt auf viele Städte in Europa hat für einen Moment die Einheit des Westens wieder in den Blick gebracht. Dabei schien sie zuletzt unter den Schlägen der Präsidentschaft Donald Trumps schon abgeräumt zu sein. Doch wenn nun in Minnesota und München ähnliche Parolen skandiert werden, dann erscheint der Westen nicht als Bündnissystem und Interessengemeinschaft, sondern als normatives Projekt, wie es der Historiker Heinrich August Winkler beschrieben hat. Es formierte sich in den beiden atlantischen Revolutionen, der amerikanischen von 1776 und der französischen von 1789. Beide formulierten Kataloge von Menschen- und Bürgerrechten, beide entwarfen republikanische Verfassungen mit Gewaltenteilung und der Herrschaft des Rechts.

"Normativ" und "Projekt" nennt Winkler diese säkulare Anstrengung, weil ihre Ideale bis heute nie ganz realisiert wurden. Das Projekt blieb immer unvollendet, rückfallgefährdet, und war stets an seinen eigenen Ansprüchen zu messen und weiterzuentwickeln. Zum "Westen" gehören Selbstkritik, Protest und Reform von Anfang an dazu. Dazu gehört auch die Verbindung über den Atlantik, die wechselseitige Beeinflussung der Staaten und ihrer Gesellschaften. Der momentane Gleichklang des Protests erinnert an die Studentenbewegungen und ihren Kampf gegen den Vietnamkrieg vor einem halben Jahrhundert.

Der amerikanische Aufruhr und seine europäischen Ableger haben mit dem unvollendeten Projekt unmittelbar zu tun, weil sie einmal mehr an dessen Lücken erinnern. Die amerikanische Revolution schloss die unterjochte Urbevölkerung und die aus Afrika verschleppten Sklaven aus. Auch die Französische Revolution übertrug die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte nur partiell und vorübergehend auf die Kolonien. Wie Frankreich verweigerten auch die anderen europäischen Mächte ihren überseeischen Ablegern jene mühsam errungenen Rechtsstaatsgarantien, auf denen die heimischen Bürgergesellschaften bestanden. Der Universalismus des westlichen Projekts blieb zunächst weiß, nicht nur in seiner historischen Entstehung, sondern, und das ist entscheidend, in seiner Anwendung. Die Folgen dieser Erblast sind bis heute nicht vollständig überwunden.

Zum Westen gehört eben nicht nur die schöne, bis heute weltweit attraktive Idee liberaler Verfassungen. Der Westen ist auch Ausgangspunkt und Produkt eines der gewaltsamsten Prozesse der Weltgeschichte, nämlich der europäischen Welteroberung seit der Frühen Neuzeit. Europa, vor allem dessen atlantische Küstenländer, nutzte seinen Entwicklungsvorsprung, um an fast allen anderen Küsten des Erdballs Stützpunkte für Handel, Piraterie, Ausbeutung und Landgewinn zu errichten. Selbst älteste Hochkulturen wie Indien und China konnten in dieses eurozentrische System einbezogen werden.

Die monströseste Auswirkung solcher Weltherrschaft war die jahrhundertelange Zwangsumsiedlung afrikanischer Menschen im atlantischen Sklavenhandel. Kolonialherren, Kaufleute und Plantagenbesitzer veränderten den ethnischen Zuschnitt eines ganzen Kontinents.

Der neuzeitliche Rassismus, der Begriff der Rasse und die ihn begleitenden Praktiken, sind eine unmittelbare Folge der europäischen Durchdringung der Welt. Der Rassismus ist die eigentliche Rückseite des westlichen Projekts. Denn die europäischen Seefahrer und Kolonisatoren kamen nicht nur als Eroberer und Ausbeuter, sie waren zugleich Geografen, Ethnologen, Missionare. Sie beschrieben und vermaßen die neuen Weltteile und ihre Bewohner. Beschreibung wurde zu Klassifizierung nach dem Phänotyp, wobei die Hautfarbe den ersten Anhaltspunkt bot, der bald mit allerlei anderen Eigenschaften und Bedingungen, etwa dem Klima, verknüpft wurde.

Eine globale Menschenzoologie entstand. Der aus der Pferdezucht und der Adelsgenealogie stammende Begriff "Rasse" wurde ihr wichtigstes Ordnungsmuster. Von Anfang an verfuhr sie wertend, teilte Bevölkerungen in höhere und niedere Rassen ein. Diese von der modernen Biologie längst widerlegten Doktrinen machten fremde Menschen zu Laborobjekten und Museumsstücken; man zeichnete und fotografierte sie, nahm Gesichtsabdrücke, vermaß Skelette und führte Statistiken. Gab es überhaupt eine zusammengehörige Menschheit? Die Frage konnte offenbleiben, da von "Varietäten" die Rede war. Naturwissenschaften - so die Evolutionslehre - und Kulturtheorien gingen dabei immer öfter Hand in Hand. Vorstellungen von "Züchtung" und "Rassenkampf" befeuerten im Hochimperialismus mörderische Exzesse. Zu Hause in Europa amalgamierte sich der Rassenbegriff mit dem überkommenen christlichen Antijudaismus zum Antisemitismus. Europa beschrieb sich selbst mit Kategorien, die es zuerst für die außereuropäische Welt entwickelt hatte.

Europa, das so lange die Welt eingeteilt und besiedelt hat, ist inzwischen selbst zu einem Einwanderungsgebiet geworden. Es wird dabei ähnlich multiethnisch, wie es die USA seit jeher waren. Damit ist auch die Erblast des Kolonialismus an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Der Sprung des Protests über den Atlantik hat einen historischen Grund in der Sache; er ist mehr als wohlfeile moralische Selbsterhöhung, wie manche Kritiker glauben.

Der Kampf um Anerkennung, den eingewanderte Europäer heute führen, macht auf seine Weise Ernst mit dem normativen Projekt des Westens. Dieses setzt auf den Begriff der Menschheit und die unveräußerlichen Rechte des Individuums, es fasst die Begriffe Staatsbürgerschaft und Nation nicht ethnisch, sondern republikanisch. Dagegen hat sich in den vergangenen Jahren ein verschärfter, auch begrifflich zugespitzter Widerstand der neuen Rechten formiert. Der Kampf um den Westen und seine Ideale geht weiter.

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SZ vom 13.06.2020
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