"Random Access Memories" von Daft Punk:Da hat wieder alles einen Sinn
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Man findet aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das große neue Album von Daft Punk und die Frage, warum die Gegenwart immer noch von einer Zukunft träumt, die sich die Vergangenheit ausgedacht hat.
Viervierteltakt. Four to the Floor, wie man so sagt. Kein Backbeat wie im Soul, kein Downbeat wie im Funk. Nope. Ein Basstrommelpatsch auf jeden Schlag. Tempo: 120 Beats per Minute. Das ist etwa die doppelte Anzahl der Herzschläge pro Minute eines durchschnittlich gesunden erwachsenen Menschen in Ruhe. Oder exakt die Herzfrequenz eines entspannten neugeborenen Kindes. Oder das Geheimnis von Disco. Nicht das ganze. Natürlich nicht, davon wird noch zu reden sein. Aber doch ein guter Teil des Geheimnisses.
Man muss nämlich, Ladies and Gentlemen, ein gefrorenes Hirn, Beine aus Stahl oder auch einfach kein Herz haben, um sich nicht ein paar Grad lockerer, lässiger, leichter zu fühlen, wenn man ein paar Tönen begegnet, die irgendwer gekonnt Four-to-the-Floor verleimt hat. Sonst hätte in den Siebzigern der Münchner Musikproduzent Giorgio Moroder nicht die moderne Popmusik erfunden, und - was auch immer man im einzelnen Fall davon halten mag - die Village People wären einfach nur Village People, Abba hätten kein Museum, die Bee Gees einfach nur ein Hormonproblem und so weiter.
Disco also. So, so. Aha. Sehr gut. Das dachte man, als einen vor ein paar Wochen die ersten Mails erreichten, die einen aufgeregt fragten, ob man diesen neuen Disco-Hammer von Daft Punk gehört hätte, "Get Lucky", wie G-R-O-S-S-A-R-T-I-G der denn bitte sei? Und dann, eineinhalb Klicks später, konnte man es selbst schon nicht mehr fassen. "We're up all night to get lucky", sang da im Video Pharell Williams im Glitzeranzug als eigentlich nicht allzu eindrucksvoller, aber umso besser gelaunter Disco-Crooner, die linke Hand in der Hosentasche, lässig fingerschnipsend mit der rechten. Meine Güte. Da hatte ja plötzlich mal wieder alles einen Sinn. Klar, wir bleiben die ganze Nacht auf, um Glück zu haben. Und durch den ganzen Bürokram dancen wir uns bis dahin auch noch ganz locker hindurch.
Diauuo - diauuuuo - dideldidideldiedeldel-did-diauuu. Oder so.
Die ganze irre Macht des Pop, das war sie und da hatte man in dem Video noch gar nicht gesehen, dass der Gitarrist mit dem lustigen Afrohelm links von Pharell gar nicht irgendein Gniedelgroove-Sklave ist, sondern Nile Rodgers himself. Sagenumwobener Pop-Produzent und seit Chics Hit "Le Freak" einer der großen alten Disco-Paten. Und dann spielen auch noch ein Herr mit einem großen silbernen und ein Herr mit einem großen goldenen Motorrad-Helm formvollendet Plexiglas-Bass und Plexiglas-Schlagzeug. Ach ja, das sind dann die beiden - wie üblich gesichtslos bleibenden - Pariser Pop-Götter Guy-Manuel de Homem-Christo and Thomas Bangalter alias Daft Punk. Und dann zerfiel auch schon der Gesang zwischendurch in dieses tolle verhackte Daft-Punk-Robowackeln. Danach noch diese kleine jaulende Oldschool-Synthie-Melodie zum Schluss: Diauuo - diauuuuo - dideldidideldiedeldel-did-diauuu. Oder so. Wie richtig ist das denn alles bitte?
Oder vielmehr: Warum ist das eigentlich gerade jetzt offenbar so richtig? Warum ist das die Musik zur Zeit? Ist das neue Daft-Punk-Album "Random Access Memories" (Columbia/Sony) vielleicht die ersehnte gute Antwort auf die Frage, warum die Gegenwart immer noch so gern von einer Zukunft träumt, die sich die Vergangenheit ausgedacht hat?
Wobei dieser Gedanke jetzt nicht dazu führen soll, dass die Knie wieder steif werden, weil: Still gestanden verstünde man vielleicht die Frage etwas besser, aber der Weg zur Antwort wäre wieder viel weiter. Also weiterschnipsen, "Get Lucky" ist ja gar nicht der erste Song des Albums. Los geht es mit "Give Life Back To Music", wieder mit Nile Rodgers ganz, ganz lockerem rechten Handgelenk an der Gitarre. Dazu etwas Klatschen. Aber nicht dieses erbarmungslos fleißige Wetten-Dass-Massen-Klatschen, das noch aus jedem Groove den letzten Saft herausgetatscht hat! Nein. Wir reden hier vom Handclap, ganz easy, gleichzeitig zurückgelehnt und voll bei der Sache. Und der Gitarrist Paul Jackson Jr. spielt auch noch mit, den in unserer Welt natürlich niemand kennt, der aber trotzdem nicht irgendwer ist, sondern einer der in Los Angeles angesehensten Session-Musiker. Und das ist kein nebensächliches Detail, es ist das Prinzip dieses Albums.
Es gibt nämlich keine geborgten Samples. Jedes Puzzleteil ihrer neuen Tracks haben Daft Punk tatsächlich im Studio in L.A., New York und Paris einspielen lassen. Und wenn jetzt sechs Minuten lang Nile Rodgers zu hören ist oder Pharell oder Chilly Gonzales oder Panda Bear von Animal Collective oder Julian Casablancas von den Strokes oder eben auch Giorgio Moroder, dann haben die alle auch mindestens sechs Minuten lang gesungen, geredet, gespielt. "Random Access Memories" ist damit das glatte Gegenteil einer Bedroom-Laptop-Frickel-Produktion. Der Musik wieder Leben einhauchen - das haben die beiden diesmal auf fast unfranzösische Art sehr ernst genommen.
So ernst, wie sie auf ihren bislang drei nur unwesentlich unterschiedlich unwiderstehlichen Vorgängeralben "Homework" (1997), "Discovery" (2001) und "Human After All" (2005) für ihren Robot Rock jeden Schnipsel der Musik, die ihnen irgendwie verwendbar schien, durch den Elektro-Filter-Wolf drehten. Und dabei Songs für die Ewigkeit erfanden. Also Songs wie "Around The World", "Da Funk", "One More Time", "Prime Time Of You Life" oder "Harder Better Faster Stronger", mit denen man ein Stadion voller Menschen dazu bringen kann, es für die selbstverständlichste Sache zu halten, mit alten Stotter-Vocodern, Dampfstrahler und Kettensäge die beste Gute-Laune- Tanzmusik aller Zeiten zu machen.
Aber zurück zum Album, bei dem man ja wirklich aus dem Staunen nicht mehr herausfindet, wenn Meister Moroder von seiner Karriere erzählt und Daft Punk dazu so etwas wie Doku-Disco erfinden. Wenn man tatsächlich hört, was Chilly Gonzales zuletzt erzählte, wie er von Daft Punk den Spezial-Auftrag erhielt, den Tonartwechsel von A-Moll, der Tonart der ersten drei Songs, zu B-Moll, der Tonart des vierten zu besorgen. Wenn auf den 13 Songs nicht nur Disco, sondern der Prog- und Soft-Rock, überhaupt das ganze Synthiekonzeptzeugs der Siebziger samt echtem Orchester-Streicherleim mit dem Robo-Jaulen der Masterminds zu verblüffend frischen Songs zusammenfindet wie "Beyond", "Motherboard" oder "Doin' It Right".
Womit wir wieder bei der Frage wären, warum man sich in der Gegenwart offenbar immer noch so gern eine Zukunft vorträumen lässt, die sich die Vergangenheit ausgedacht hat. Die Antwort von Daft Punk lautet: Weil das die einzige echte Zukunft ist, die wir haben. Also eine, die noch die theologische Dimension besitzt, die der Begriff bis ins Mittelalter hatte, als er auf das Herabkommen Gottes verwies. Alles, was uns dagegen die Realisten der Krise als Zukunft verkaufen wollen, ist in Wahrheit nur eine schlechtere Version der Gegenwart. In der auch noch die Roboter nicht mehr Robotisch singen, sondern im Zweifel menschlicher als die Menschen klingen. Aber wer braucht denn bitte so was? We're up all night to get lucky.