Süddeutsche Zeitung

"Globalisten" von Quinn Slobodian:Als das Kapital kosmopolitisch wurde

Lesezeit: 4 min

Was wollten die Neoliberalen? Quinn Slobodian erzählt ihre Geschichte neu und räumt dabei mit einigen Missverständnissen auf. Ein kluges Buch, das auch Neoliberalismus-Kritiker interessieren dürfte.

Von Jens Bisky

Es ist gerade für Kritiker des Neoliberalismus unbefriedigend, wenn ihr Gegner nur als Zerrbild beschworen und obenhin charakterisiert wird. Etwa mit der beliebten Unterstellung, es gehe den Neoliberalen um den Glauben an sich selbst regulierende Märkte, schlanke Staaten, das gedeihliche Miteinander von Kapitalismus und Demokratie. Das stimme so nicht, behauptet der Historiker Quinn Slobodian in seiner ideengeschichtlichen Studie über die "Globalisten". Deren Ausgangspunkt sei nicht so weit von Überzeugungen eines John Maynard Keynes oder Karl Polanyi entfernt gewesen. Sie hätten die Märkte nicht befreien, sondern ummanteln und supranationale Institutionen aufbauen wollen. Warum? Um zwei Herausforderungen zu begegnen: der einen "durch die demokratische Mitbestimmung der Massen", der anderen durch das "Ende der Imperien".

Im Zentrum dieses klugen, oft überraschenden und pointenreichen Buches stehen nicht Milton Friedman und die Chicago Boys, nicht die Berater der Reagan- und Thatcher-Jahre, sondern die Genfer Schule. Dazu zählten Intellektuelle wie Wilhelm Röpke, Ludwig von Mises, Michael A. Heilperin, Friedrich August von Hayek, Gottfried Haberler, später dann von diesen inspirierte Mitarbeiter im Sekretariat des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT). Wie haben sie die Welt wahrgenommen? Welche Probleme waren ihnen wichtig? Was schlugen sie zur Lösung vor? Was lernten sie im Lauf der Jahrzehnte?

Slobodian beginnt seine Geschichte in Wien am Stubenring, im Haus der Niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer. Dort arbeiteten Mises, Hayek, Haberler und erlebten, was man das "Ende der liberalen Epoche" genannt hat. Ludwig von Mises schrieb 1922, dass kurz vor dem Ausbruch des Krieges die "Verwirklichung des Traumes einer ökumenischen Gesellschaft in die Nähe gerückt" sei. Und nun schien Stillstand, gar Rückbildung der Gesellschaft möglich. Im Ersten Weltkrieg hatten viele Staaten Eigentum beschlagnahmt, eine Befehlswirtschaft eingeführt. Danach stand das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf der Tagesordnung. Wo Imperien waren, entstanden Nationalstaaten, die vielfach versuchten, autark zu werden, wenigstens die eigene Wirtschaft durch Zölle zu schützen.

Das Kapital musste nach dem Ersten Weltkrieg "wieder kosmopolitisch werden"

Die "wehrhaften Liberalen" in der Ringstraße suchten nach Wegen, die zerstörte Welt wieder aufzubauen. Das mündete in Projekte eines "kapitalistischen Internationalismus". Es galt, den Freihandel wiederherzustellen. Das Kapital, schreibt Slobodian, "musste wieder kosmopolitisch werden", was freilich voraussetzte, dass grenzüberschreitende Investitionen und Privateigentum vor Beschränkungen und Enteignungen geschützt waren. Gesucht wurde eine Organisationsform für das spannungsreiche Nebeneinander von Weltwirtschaft und Nationalstaaten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg formulierte der Staatsrechtler Carl Schmitt eine Unterscheidung, die gut zum Weltbild der Genfer Schule passte. Er unterschied die Welt der territorial begrenzten Staaten, imperium, von der Welt des Eigentums, dominium. Quinn Slobodian zeigt nun Schritt für Schritt, dass der Neoliberalismus der Genfer Schule "ursprünglich keine Philosophie des freien Marktes, sondern ein Entwurf für eine Doppelregierung in der doppelten Welt des Kapitalismus war". Die Neoliberalen waren getrieben von der Angst vor Instabilität, wobei die Demokratie eine entscheidende, eine besonders beunruhigende, ja bedrohliche Rolle spielte. Die Forderungen der vielen, der Arbeiter in Europa, später auch der Menschen in den gerade entkolonialisierten Ländern, drohten den Gang der Geschäfte zu stören.

Deregulierung und Liberalisierung werden heute von rechts wie von links heftig attackiert

Begonnen hatten die Neoliberalen im Kampf gegen Zollmauern und als Konjunkturforscher. Nach 1945 kümmerten sie sich vor allem um "das internationale Recht und die internationale Governance". Der Einfluss der Nationalstaaten sollte zurückgedrängt, die Macht supranationaler Institutionen, die nicht dem wechselnden Wählerwillen unterworfen waren, gestärkt werden. Für dieses politische Vorhaben zur Entpolitisierung schien die Gründung der Welthandelsorganisation WTO im Jahr 1994 ein Erfolg. Doch die scheinbar entpolitisierte Institution machte den Welthandel, seine Mechanismen und Ungerechtigkeiten sichtbar, sie wurde zur Adresse von Kritik und Protest, etwa gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999.

Slobodian greift den Impuls dieser Proteste auf. Nachdem in seiner Jugend viel von "Globalisierung", dem "Ende der Geschichte", dem Ende der Nationalstaaten und dem einigenden Band der Weltwirtschaft geredet worden sei, habe seine Generation in Seattle begonnen, sich bewusst zu machen, "was tatsächlich vor sich ging, und die Geschichte wieder selbst in die Hand zu nehmen". Seine kritische Rekonstruktion der neoliberalen Ideen ist auch gegen deren ideologische Verklärung des Einst gerichtet. So idyllisierte etwa Wilhelm Röpke die liberale Welt. Seine Generation habe "in ihrer Jugend noch das Abendrot jenes langen strahlenden Sommertages erlebt", der vom Wiener Kongress bis zum August 1914 gedauert habe.

Röpke, der 1933 die Nationalsozialisten öffentlich kritisiert hatte, verteidigte in den Sechzigerjahren die Apartheid und glorifizierte Südafrika als Bollwerk gegen wirtschaftliche Unordnung. Mit seinen Kollegen aus der 1947 gegründeten Mont Pèlerin Society hatte er sich damals bereits überworfen. Hayek verurteilte zwar die Apartheid, aber ebenso Sanktionen gegen Südafrika. Das System der Weltwirtschaft sollte nicht von globalisierter Moral gestörten werden.

Aufschlussreich ist die unterschiedliche Sicht der Neoliberalen auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die einen sahen in ihr einen Beitrag zur "Fragmentierung des Weltmarkts", die anderen ein gutes Beispiel dafür, "wie man einen Markt mit einer rechtlichen Struktur integrieren konnte". Damit wurde die EWG zu einem Vorbild für die rechtliche, institutionelle Neuordnung.

Gegen die Ansprüche der postkolonialen Staaten auf eine neue Weltwirtschaftsordnung erklärte Jan Tumlir, einer der neoliberalen Reformer im GATT-Sekretariat in Genf, dass diese Wünsche die Ordnung selbst sprengen würden. "Internationale Regeln schützen den Weltmarkt vor den Regierungen." Slobodian fasst sarkastisch treffend zusammen, dass es offenkundig nicht Zweck der Ordnung sei, "den Menschen zu geben, was sie wollten, sondern sie daran zu hindern, sich zu nehmen, was sie wollten - und dadurch das System als Ganzes zu zerstören".

Quinn Slobodian erzählt, wie die "militanten Globalisten" das zwanzigste Jahrhundert wahrnahmen. Hinter die oft gehörte Behauptung von ihrem Triumph setzt er ein Fragezeichen. Die Regeln des Welthandels haben das Ziel nicht erreicht, "störende Bemühungen um soziale Gerechtigkeit oder Umverteilung zu unterbinden". In vielen Nationalstaaten werden Globalisten wie Kosmopoliten inzwischen von links wie rechts heftig attackiert. Wer sich, wie noch Gerhard Schröder 2002, auf die "Stürme der Globalisierung" berufen wollte, um Reformen im Inneren zu rechtfertigen, dürfte es heute schwer haben, eine Mehrheit zu überzeugen und zu gewinnen. Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung werden nahezu überall ablehnend betrachtet. Hinzu kommen der Brexit und die Schutzzollpolitik Donald Trumps.

Aber vielleicht ist auch dieses Bild überzeichnet. Wilhelm Röpke meinte 1940, die Menschen müssten sich daran gewöhnen, "dass es auch eine präsidiale, autoritäre, ja sogar - horribile dictu - eine diktatorische Demokratie gibt". Was würden die Genfer Globalisten zu erklärt "illiberalen Demokratien" sagen? Die Probleme, mit denen sie sich herumgeschlagen und die sie mit ihren Vorschlägen oft verschärft haben, sind noch die unseren. Es geht um Stabilität und Gerechtigkeit, um das Verhältnis von Demokratie, Nationalstaat und Weltwirtschaft.

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SZ vom 20.02.2020
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