Süddeutsche Zeitung

"Crawler" von Idles:Weicher Kern

Lesezeit: 2 min

Aggression als Traumabewältigung: Die britische Punkband Idles bleibt energisch und verlässt gleichzeitig ihre Komfortzone.

Von Lennart Brauwers

Glastonbury Festival 2019: Das britische Punk-Quintett Idles, das erst zwei Jahre zuvor die aufrüttelnde Debüt-Platte "Brutalism" veröffentlicht hatte, performt gerade ihren energiegeladenen Pro-Multikulturalismus-Song "Danny Nedelko". Die beiden Gitarristen - einer davon trägt nur eine Unterhose - springen ab und zu ins Publikum, während die Bassgitarre dröhnt und der Drummer so auf den Punkt genau trommelt, als hätte man ihn programmiert. Und in der Mitte der Bühne steht Frontmann Joe Talbot, der seinen Blick fest auf die tobenden Zuschauer gerichtet hat. Immer wieder haut er sich selbst auf die Brust, hebt die Faust und stampft auf den Boden, so als würde vor ihm ein Tory-Mitglied liegen. Doch beim letzten Refrain lässt Talbot, der sichtlich überwältigt von der Resonanz zu diesem bedeutungsvollen Song ist, das aufgeheizte Publikum alleine grölen. Mit Tränen in den Augen schaut er fassungslos in die Menge, bis seine Ehefrau auf die Bühne kommt und ihn tröstet.

Auch Punks dürfen mal weinen.

Wir stellen also fest: Idles sind nicht nur ein großartiger Live-Act, sondern auch mehr als eine stumpfe Punkband. Deutlicher als je zuvor schimmert auf ihrer vierten Platte "Crawler" eine eigentlich sehr gefühlvolle Stimme unter dem tollwütigen Gebrüll von Joe Talbot hindurch - wie beispielsweise im Song "The Beachland Ballroom", der wie die fettere Version eines alten Motown-Klassikers klingt.

Das Album entstand erneut zusammen mit dem Rap-Produzenten Kenny Beats - und noch vor ein paar Monaten verkaufte die Gruppe T-Shirts mit der Aufschrift "IDLES IS HIP-HOPPY". Da ist was dran, denn die Musik der Idles erinnert in ihrer direkten Gegenüberstellung von Harmonie und Brutalität häufig eher an Kanye Wests radikales Meisterwerk "Yeezus" als an die Sex Pistols oder The Clash; vor allem auf "Crawler".

Die Platte geht direkt fantastisch los. Anstelle von verzerrten E-Gitarren oder treibenden Drums beginnt der Opener "MTT 420 RR" untypischerweise mit verrauchten Synthesizern, über die Joe Talbot hauchend das düstere Setting des Albums klar macht: "It was February/I was cold, and I was high", singt er, während sich der Song immer weiter aufbaut. Gemeint ist eine traumatisierende Zeit, in der Talbot drogensüchtig war - so wie auch seine Mutter. "I got on my knees/And I begged my mother/ With a bottle in one hand/It's one or the other", heißt es im passend betitelten Track "The Wheel", der den endlosen Teufelskreis einer Sucht verdeutlichen soll. Kurz danach geht es mit dem blutigen Song "Car Crash" weiter, der ebenfalls auf einer persönlichen Erfahrung basiert und seinem Namen vor allem in den letzten 30 Sekunden alle Ehre macht.

Bei "Crawler" weiß man nicht immer sofort, was Talbot gerade sagen will

Grundsätzlich sind die Lyrics wieder weniger stumpf und plakativ als auf dem Vorgänger "Ultra Mono", das laut Angaben der Band allerdings absichtlich so gestaltet wurde und (vielleicht gerade deswegen?) den ersten Platz der britischen Albumcharts erreichte. Stattdessen weiß man auf dem Ablum "Crawler" nicht immer sofort, was genau Talbot gerade sagen will - und das tut sehr gut. "The tapping of the feet seem loud/There's a girl in a whirlwind cloud/I danced with a Spaniard man/'Til we had no breath left in our pounding chests". Wir lassen das einfach mal so stehen, oder?

Doch eins ist sicher: Die Kernaussage der Idles ist immer noch, dass man aus einer traumatischen Erfahrung letztendlich positiv herausgehen kann. "In spite of it all/Life is beautiful", brüllt Joe Talbot am Ende und klingt dabei ebenso verbissen wie emotional. Aggression und Sentimentalität gehen hier Hand in Hand - und ergeben einen Schlag ins Gesicht, den man dankend annimmt.

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