Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Der Nachbar des Blues

Lesezeit: 1 min

Die neuen Alben der Woche und Antworten darauf, was Helene Fischer und Johnny Cash miteinander verbindet, und warum Musikproduzentin Maya Jane Coles gerade bestes gegenwärtiges Handwerk liefert.

Von Juliane Liebert

Was haben Helene Fischer und Johnny Cash gemeinsam? Nun, beide eroberten die Charts von Gebieten her, die aus Perspektive des Pops lange Zeit als schauriges Reich der Barbaren erschienen. Hic sunt leones auf popistisch sozusagen. Die eine machte Schlager, der andere Country. Es gibt aber auch Unterschiede. Der wichtigste: Cash schaffte es auch auf die Plattenteller der Feuilleton-Bourgeoisie. Das ging leider nicht ohne eine gehörige Portion Leichenfledderei über die Bühne. Rick Rubin packte da schon mal ein paar Akustikgitarren unter die eher mit letzter Kraft gebrummte als gesungene Stimme des halbtoten Cash - fertig war das Hit-Album.

Nun erscheint eine bislang unveröffentlichte Live-Aufnahme. Kann da nach den berühmten Konzerten von Folsom Prison und San Quentin noch viel kommen? Es kann. Die Show "At the Carousel Ballroom", aufgenommen im April 1968, das Cover stilecht mit Blümchen verziert, ist energetisch, lässig und von bestechender Tonqualität. June Carter Cash ist auch mit dabei, frisch mit Johnny verheiratet, und man meint, den beiden beinahe die Flitterwochen anzuhören. Neben den Überhits "I Walk the Line" und "Ring of Fire" spielen Cash und Band auch den Folk-Klassiker "This Land is your Land", covern Bob Dylan und bieten so viel Outlaw-Poesie, dass unmissverständlich klar wird: Country ist eigentlich keine "rechte", konservative Musik, sondern der Nachbar des Blues. Besonders schön: "Bad News". Da ist der Übeltäter so böse, dass er sogar das Galgenseil besiegt - Johnny untermalt es mit den passenden Rotzlauten.

Auch Maya Jane Coles steht Helene Fischer näher, als sie mutmaßlich glaubt (sofern sie das deutsche Chart-Blockbuster-Wunder kennt). Beide machen sie nämlich Musik, die im Jahr 2021 hoffnungslos uncool wirkt. Im Fall von der britisch-japanischen DJ handelt es sich dabei um House. Oder zumindest einen zeitgenössischen Abkömmling desselben. Four to the Floor, wahwahende Synths, die ein oder andere Meisterinnen-Gesangsspur. Seltsamerweise ist Coles Musik aber gar nicht uncool, sondern bestes gegenwärtiges Handwerk, geboren aus der Melancholie der Nacht mindestens so sehr wie aus der Hoffnung auf schweißtriefende Post-Covid-Partys. Ihre Tracks strahlen urbane Wärme aus, uffzen nie eintönig vor sich hin, sondern haben dank punktgenau platzierter, effektverdrehter Voice-Snippets und Beat-Manipulationen eine klarere Dramaturgie als mancher Top-Ten-Song. Man kann übrigens auch dazu tanzen. Wer es noch nicht verlernt hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5449356
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.