Süddeutsche Zeitung

Pop:Im deutschen Urwald

Lesezeit: 3 min

Nach 17 Jahren Pause ist endlich wieder ein neues Album des Techno-Großmeisters Wolfgang Voigt erschienen: "Narkopop" ist wie eine Disco im Wald.

Von Max Dax

Der deutsche Urwald, besser gesagt: der Königsforst bei Köln, ist der Ausgangspunkt von allem, was der Technomusiker und Labelgründer Wolfgang Voigt seit 1996 unter seinem Künstlernamen GAS veröffentlicht. Das fängt bei den atmosphärisch stark bearbeiteten Fotografien auf den Plattencovern von GAS an, die ab dem zweiten Album "Zauberberg" mysteriös und verzaubert anmutende Walddickichte als Motiv aufweisen. Es wandert über die Musik, die, haben sich die Bilder von den Covern erst einmal auf der Netzhaut eingebrannt, tatsächlich anmutet, als spiele sie in einem verwunschenen Wald. Und es endet in einem komplexen Überbau, den Wolfgang Voigt mitliefert und der alle Behauptungen bis hierhin bestätigt.

Er hält die Zeit nicht an. Aber er verändert unsere Wahrnehmung davon

Voigt ist ein Techno-Intellektueller wie der Künstler Carsten Nicolai oder der Autor Rainald Goetz. Er sagt über den Waldbezug in der elektronischen Musik von GAS: "Der Wald ist ein großer Assoziations- und Erfahrungsraum. Als Jugendlicher bin ich oft im Königsforst gewesen und habe hier Naturerfahrungen gehabt - nicht zuletzt prägende Erfahrungen auf LSD. Auf diese lang zurückliegenden Erinnerungen greife ich zurück, wenn ich bei GAS Samples von Streichern und andere Sounds übereinander schichte. Gelegentlich hört man in der Ferne eine Bassdrum. Die kommt näher und entfernt sich wieder in den Hall- und Dubräumen des Waldes. Ich hatte immer diese Vorstellung vom Wald in der Disco und der Disco im Wald."

Tatsächlich klingen die Sound-Layer, die Wolfgang Voigt nach 17 Jahren Veröffentlichungspause — in der Zwischenzeit produzierte er unter vielen anderen Künstlernamen — auf seinem neuen Album "Narkopop" kunstvoll übereinander schichtet und so miteinander verschmelzen lässt, teilweise wie jene ätherischen Momente, die man in der Oper oder im klassischen Konzert erleben kann, wenn sich das Orchester im Graben vor dem ersten offiziell gespielten Ton minutenlang polyphon und dissonant zugleich einstimmt.

Hinzu kommt die bereits erwähnte Bassdrum, und zwar ausschließlich die gerade, symmetrische, marschierende Bassdrum, die den unbeirrbaren Takt im Techno definiert, die der Pulsschlag eines gesamten Musikgenres ist. Diese Bassdrum war in den vorangegangenen vier, man darf wohl sagen: Konzeptalben von GAS mal stärker, mal nur noch als sprichwörtliches Rauschen im Wald zu hören. Die vier in kurzer Folge im Zeitraum zwischen 1996 und 2000 auf verschiedenen Labels veröffentlichten GAS-Alben trugen die Titel "Gas", "Zauberberg", "Königsforst" und "Pop". Mit diesen Werken bezog Voigt eine horizonterweiternde Gegenposition zum Techno-Hedonismus der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre, indem er lose an Ideen der kosmischen Musik, aber auch an die der Neuen Musik anknüpfte und damit das Vokabular der Technomusik um einige Abstraktionen erweiterte.

Diese vier Alben sind kürzlich als Vinyl-Sammlerbox inklusive einem Band mit Waldfotografien (von Voigt und der Fotografin Veronika Unland) auf Wolfgang Voigts eigenem Label Kompakt wiederveröffentlicht worden. Erkenntnis nach knapp vier Stunden ungestörtem Zu- beziehungsweise Hinhören: Diese Musik ist nicht gealtert. Offenbar waren die "Clusterbildungen" (Voigt) von synthetischen und Natursounds in Kombination mit der stets unterschwellig hypnotischen Bassdrum, eingebettet in ein ästhetisches, ausformuliertes Konzept namens GAS, so stark, eigen und so modern, dass sie heute noch unverwechselbar und kontemporär klingen — mit einer nicht unangenehmen, leichten Patina.

"Narkopop" ist Wolfgang Voigt jetzt nach langer Pause gleich in mehrerlei Hinsicht zu einem bemerkenswerten Musikspannungsbogen geraten. Zum einen ist diese Musik im wahrsten Sinne des Wortes berauschend. Im Gespräch benutzt Voigt Begriffe wie "narkotisch" oder "soghaft", um die einlullende Qualität seiner oberflächlich ebenso glatten wie stimmungsvollen, aber näher hineingezoomt äußerst diffizilen und ausdifferenzierten Klangarchitekturen in konkrete Worte zu fassen. Die elf (auf CD zehn) Tracks auf "Narkopop" klingen tatsächlich beruhigend und beunruhigend zugleich. Die Spannung ist permanent. Zweitens knüpfen sie an eine im Technokontext bereits vor epischer Zeit durchdeklinierte Zeichen- und Klangwelt an, mit denen sie so etwas wie eine unmittelbare Vertrautheit herstellen, wenn man mit der Musik von GAS bereits vertraut ist. Die Erkenntnis dabei ist verblüffend einfach: Mit "Narkopop" hält Wolfgang Voigt die Zeit zwar nicht an, aber mit seiner Musik verändert er die Wahrnehmung von Zeit.

Das ist wahrlich bemerkenswert - und selten. In einer Zeit, in der sich zunehmend ein schulterzuckendes Verständnis vom Ende der Musik durchzusetzen scheint, demzufolge alles schon gedacht und musiziert wurde, bezieht sich Wolfgang Voigt mit seiner neuesten GAS-Reinkarnation auf Urqualitäten der Musik zurück, nämlich die der Transzendenz und des Raums. Nicht irgendeines Raums: des Waldraums, der, wie wir gelernt haben, zugleich Echo- und Hallraum ist, tief, tief im Inneren des Technoforsts

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3501245
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.05.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.