Süddeutsche Zeitung

Pop:Die Kunst des Schwebens

Lesezeit: 3 min

Solange Knowles beweist, dass große Popmusik auch im Zeitalter des nervösen Musikkonsums nicht schnell erfassbar sein muss.

Von Annett Scheffel

Die Welt des lange erwarteten neuen Albums "When I Get Home" (Columbia/Sony) von Solange Knowles ist voller Bilder und Imaginationen des schwarzen Amerikas, voller Stimmungen und persönlicher Gedanken und afrofuturistischer Ideen. Und es ist bevölkert von den vielen Gestalten Solanges. Die jüngere und avantgardistischere Schwester des Pop-Superstars Beyoncé Knowles ist längst viel mehr als eine weitere Popsängerin, sie ist Songwriterin und ihre eigene Produzentin, sie ist Aktivistin, Choreografin, Performance-Künstlerin und Art-Direktorin hinter ihren kunstvollen Videowelten. Und in der Kunst, die sie macht, erkennen sich viele schwarze Amerikaner wieder.

Ihr Durchbruch war 2016 "A Seat At The Table", jene richtungsweisende Platte, mit der sich Solange endgültig von ihrer großen Schwester, dem R'n'B-Superstar Beyoncé Knowles, emanzipierte. "A Seat At The Table" war ein sirupartig fließendes Neo-Soul-Meisterwerk als Reflexion über die eigene Identität als schwarze Frau. Das Album traf - damals im Herbst 2016, den Wochen vor und nach Trumps Wahlsieg - mit seiner Mischung aus Frustration, schwarzen Zugehörigkeitscodes und strahlender Zuversicht den Nerv der Zeit wie kaum eine zweite Platte. Nur alle paar Jahre mal gibt es Momente, in denen Popmusik so dringlich erscheint.

Davon, dass die Popwelt seitdem das neue Album herbeisehnte, hat sich Solange nicht drängeln lassen. Stattdessen hat sie ihre Arbeit auf die Kunstszene ausgeweitet: Ein erstes Zeichen waren die ambitionierten Live-Shows, in denen sich Tanz, Musik und Kunst-Performance vermischten. Damit trat sie unter anderem im Guggenheim Museum in New York auf - einem Ort, an dem Kunst von einer schwarzen Frau immer noch eine Seltenheit ist. Wie wichtig der Kunstkontext bei Solange ist, zeigt sich auch in ihrer Videoästhetik: Zu "When I Get Home" hat sie einen 30-minütigen Film gedreht, der von schwarzen Cowboys und wundersamen Tanzformationen geprägt ist. Die surreale Bilderwelt, die schwerelosen Bewegungen, die langsamen Zooms - all das öffnet die Musik für neue Projektionen.

Überhaupt ist "When I Get Home", das bereits für vergangenen Herbst angekündigt war und vor ein paar Tagen plötzlich veröffentlicht wurde, weit entfernt von der großen Protestgeste, als die es sich wohl viele erhofft haben: 19 ruhig und kunstvoll schwebende Tracks zwischen Soul, R'n'B, Jazz und Hip-Hop, diesmal aber viel experimenteller und fragmentarischer.

Wieder ist die Liste der beteiligten Musiker lang und beeindruckend: Pharrell Williams, Sampha, Panda Bear, Earl Sweatshirt, Tyler the Creator, Gucci Mane, Playboi Carti und viele mehr. Wieder liefern sie alle aber nur kleine Bruchstücke für das von Solange dirigierte Konzept. Man erkennt hier noch den für sie typischen Sound mit seinen avantgardistischen Brüchen und Entschleunigungen, den sie 2013 für die EP "True" in Zusammenarbeit mit dem britischen Musiker Dev Hynes alias Blood Orange entwickelte. Aber wo "A Seat At The Table" ästhetisch geschlossen und verdichtet klang, sind die neue Stücke flüchtiger, noch weiter entfernt von traditionellen Songstrukturen, noch befreiter von der Vorstellung, Popmusik müsse im Zeitalter von Spotify und YouTube schnell erfassbar sein. "When I Get Home" ist das Gegenteil: ein Bewusstseinsstrom-Sound, in den man als Hörer zwar nur langsam aber tiefer vordringen kann.

Thematisch bewegt sich "When I Get Home" in einem ähnlichen Kosmos wie sein Vorgänger: Es geht - wenn auch weniger explizit als auf "A Seat At The Table" - um die Frage, was schwarze Identität ausmacht, wie sie sich ausdrückt und wie sie sich abgrenzt. Auf der letzten Platte hatte Solange darüber noch viel zu sagen, diesmal spiegelt sich diese Themen vor allem in Gefühlen, Stimmungen und musikalischen Details. Im Stilmittel der endlosen Wiederholung zum Beispiel, zu dem Solange eine wilden Mischung aus Inspirationen geführt hat: etwa der Sechziger-Psychedelic-Soul von Minnie Ripertons Band Rotary Connection, Stevie Wonders experimentelles Album "Journey Through The Secret Life Of Plants" oder der afrofuturistischen Jazz von Alice Coltrane und Sun Ra.

Die "Blackness", um die es diesmal aber vor allem geht, ist die Welt ihrer Heimatstadt Houston - genauer: das stark afroamerikanische geprägte Viertel Third Ward, das Zuhause, auf das sie im Albumtitel anspielt. Die Songs und Interludes heißen "Almeda", "S McGregor", "Binz" oder "Beltway" nach örtlichen Vierteln, Lokalitäten und Umgehungsstraßen. Trotzdem ist es nicht das echte Houston, sondern eine frei assoziierte Vorstellung der Stadt als prägende Sphäre ihrer Identität im Besonderen und schwarzer Identität im Allgemeinen. Ein imaginärer Ort, an dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen wie die Moog-Synthesizer und gedämpften Drum-Patterns in ihrer Musik. "I saw things I imagined", singt Solange in Eröffnungsstück und wiederholt die Zeile wie ein Mantra: Das Gesehene und das Imaginäre sollen verschwimmen.

Am eindrücklichsten zeigt sich das in "Almeda": Der Song ist eine Art zeitgenössisches Update der Screwed & Chopped-Musik, jenes zeitlupenartigen Südstaaten-Hip-Hop. Über klappernden Percussions und synkopierten Keyboards verknüpft Solange Nuancen von Hautfarbe und Kultur - "Brown liquor /Brown sugar / Brown braids / Black skin / Black Benz / Black plays" - um dann zu resümieren, man werde den Schwarzen diese Dinge nie wegnehmen können: "These are black-owned things / Black faith still can't be washed away". So deutlich wie hier wird Solange auf ihrer neuen Platte nur dieses eine Mal. Ansonsten bleiben die Songs und Texte skizzenhaft. Aber genau das ist ihre Kunst: "When I Get Home" ist emotional und meinungsstark, ohne dem Hörer und der Hörerin zu sagen, was sie fühlen oder denken sollen. Vielleicht ist das die größte Utopie von allen.

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Quelle:
SZ vom 11.03.2019
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