Süddeutsche Zeitung

Klavieredition:Mozarts Tante

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Langweilig oder Goldstandard? Sie war eine Künstlerin ihrer Zeit: Die Pianistin Ingrid Haebler in einer umfangreichen CD-Edition.

Von Helmut Mauró

Den einen ist sie die langweiligste Pianistin des Jahrhunderts, den anderen der Goldstandard an Werktreue, insbesondere in Bezug auf Mozarts Klaviermusik. Ingrid Haebler, 1929 in Wien in eine vormalige Adelsfamilie geboren, erhielt Klavierunterricht von der Mutter, zog mit der Familie bei Kriegsausbruch nach Salzburg, studierte in Genf bei Nikita Magaloff, in Wien bei Paul Weingarten, schließlich am Salzburger Mozarteum, an dem sie später selbst als Professorin unterrichtete. Und dieses in den größten Wirren der Zeit des Zweiten Weltkriegs durch und durch geordnete Leben spiegelt sich auch in ihrer Künstlerpersönlichkeit. Das zeigt die nun erschienene CD-Edition ( Decca) sehr deutlich.

Eine unbelastete Kunst ist oft auch eine kastrierte

Sie sucht, wo nicht das Unschuldige, so doch das Unbeschwerte, vielleicht auch das von der Nazi-Kunstvereinnahmung Unbelastete. Das wirkt schnell reduziert, denn eine versuchtermaßen sachliche oder neutrale Kunst ist auch eine ihres künstlerischen Kerns beraubte. Das hört man leider überdeutlich schon dort, wo man es vielleicht nicht zuallererst suchen würde: in den Aufnahmen des Klavierwerkes von Johann Christian Bach, des Mailänder oder Londoner Bachs, jüngster Sohn Johann Sebastian Bachs und wichtigster Bezugspunkt für Mozart in Sachen Klaviermusik. Johann Christian, der auch als Erfinder der Wiener Klassik gehandelt wird, tritt bei Haebler oftmals nur als gefälliger Rokoko-Unterhalter auf, der vielleicht in den Salons zum Fünf-Uhr-Tee aufspielt und im Übrigen ohne Bedeutung ist.

Kein Wunder, dass Haeblers zahlreiche Aufnahmen von Werken dieses Komponisten, unter denen sich auch interessante und musikalisch engagiertere finden, dennoch keine weiteren Folgen für eine Wiederentdeckung des Vorklassikers hatten. Aber wollte man in den Fünfziger und Sechziger Jahren wirklich anderes hören als genau dies: gefällige Unterhaltung, die niemandem weh tut und vor allem: absolut unpolitisch ist? Die niemanden mit gesellschaftlicher Relevanz konfrontiert und zum Erinnern an problematische Vergangenheit zwingt? Die Pianistin Ingrid Haebler erfüllte all diese Erwartungen, sie entsprachen ganz offensichtlich auch denen an sich selbst. 1954 gewann sie den ARD-Wettbewerb - das war seinerzeit ein Gütesiegel, eine Karrieregarantie.

Ihre solide Technik kam ihr dabei sicherlich zugute, die manchmal beinahe penibel wirkt, aber nie betulich. Vielleicht war sie deshalb auch als Kammermusikpartnerin gefragt. In der Edition stechen die Mozart-Violinsonaten mit dem Geiger Henryk Szeryng hervor. Im Solospiel erweist sich dies nicht immer als Vorteil. Wie sie etwa die frei ausschwingende, ungewöhnlich fröhliche D-Dur-Sonate von Franz Schubert in die Tasten klopft - das ist schon deprimierend. Ist es also wirklich in erster Linie die Zeit, die Nachkriegssituation, die geistige Gelähmtheit, die hier die Verständnisästhetik bestimmt? Und warum klingt die Aufnahme von Franz Schuberts großer G-Dur-Sonate aus dem Jahr 1960 dann überzeugender als die erneute Einspielung von 1969?

Hat sie versucht, sich der neuen Zeit freiheitsdrängender Individualisierung anzupassen und sich einer persönlicheren Annäherung an das Werk zu öffnen? Wenn ja, dann ist ihr das gründlich misslungen. Sie bleibt auch in der späteren Aufnahme rhythmisch pingelig, unberührt von Schuberts melodischem Schwung. Hat man Schubert damals generell so gespielt? Der fast dreißig Jahre ältere Claudio Arrau beginnt die große G-Dur-Sonate ähnlich geordnet, was das Metrum betrifft. Aber, selbst im eröffnenden Liegeklang, wo man nicht mit rhythmischen Akzenten arbeiten kann, findet er Möglichkeiten, das Ganze viel räumlicher zu gestalten. Allein durch die etwas stärkere Betonung der Mittelstimmen fächert er den Klang auf und schafft Erwartungsräume.

Man ist sofort in einer anderen Welt. Ganz ähnlich Alfred Brendel, der die Altstimme gleichwertig mit dem Sopran führt und so eine Situation von Erzähler und Zuhörer herstellt. Er versucht sofort, eine Bühne zu schaffen für dramatische Erzählung, bei der schnell auch die Figur des Pianisten als Regisseur ihre Position behauptet. Man muss bei Haebler den persönlichen Ausdruck sicherlich an anderer Stelle suchen, in anderen Erscheinungsformen als bei den genannten und insbesondere bei heutigen Pianisten. Man nahm das Grundmetrum damals viel ernster, dogmatischer. Auch kleinere Verschiebungen, Dehnungen und Stauchungen des Tempos sind bei Haebler eine Ausnahme und also ein Ereignis, das sie nur äußerst sparsam einsetzt.

Ihre Selbstbeschränkung führt manchmal zu schlichter Größe

Dadurch beschränkt sie sich im c-Moll-Impromptus ein bisschen zu sehr, dadurch gewinnen andererseits etwa der Beginn der späten G-Dur-Sonate oder das Ges-Dur-Impromptus so ungeheuer an Selbstverständlichkeit und schlichter Größe, dass man fast ein wenig ins Staunen gerät. Warum glaubten nachfolgende Pianisten, hier herumdonnern zu müssen, wo Schubert sich trotz des durchweg vollgriffigen Satzes musikalisch so beschränkend nach innen richtet? Auch das anschließende As-Dur-Impromptus hört man oft als show piece missverstanden, und wird dabei um die stille Melancholie betrogen, die trotz der Dreiklangskaskaden und Forte-Momente kein hysterischer Aufschrei ist, sondern ganz bei sich bleibt.

Immer gelingt ihr das nicht. Ziemlich hölzern stakst das B-Dur-Impromptus daher, und im f-Moll-Impromptus fehlt ihr anfangs jedes Verständnis für den Grundcharakter dieses Stücks. Wenn man daneben den jungen Alfred Brendel hört, wie er hier allein durch die Rücknahme der Lautstärke und minimale Verzögerungen das Stück aus einer ganz anderen Richtung hört, wundert man sich über den Ansatz von Haebler. Aber der ändert sich. Nach und nach lässt sie sich von dem überzeugen, was Schubert hier an Gefühlslagen in musikalische Rede ausformuliert.

Insofern ist Haebler eine Hörhilfe für alle Zaghaften und auch für ästhetische Dogmatiker, die genau wissen, wie Schubert klingen muss, was seine Musik aussagt und warum es der Mühe nicht wert ist, mehr oder anderes darin zu suchen. Haebler führt sie zumindest ein kleines Stück weiter. Nicht zu weit, sicherlich, und das schätzen viele an ihr, denen die Expeditionen ins Reich des Originalklangs und in die Gebiete tiefer schürfender Psychologie oder auch exhibitionistisch anmutenden Ausdrucksfurors allemal zu weit gehen. Haebler, so viel ist garantiert, stößt niemanden vor den Kopf.

Und Mozart? Bei ihm geht es ganz besonders um die Aufführung eines vermeintlich unschuldigen Urzustandes, was seit jeher am besten in der Darstellung des Empfindsamen gelingt, in der Exposition von Innerlichkeit. Haebler spielt bei aller technischen Genauigkeit über Vieles unbedacht hinweg, und da wird die Unschuld zur Unbedarftheit, im Extremfall zu unverbindlichem Kitsch. Da hüpft es und springt, und man hat es sogleich vor Augen, das muntere Wolferl, wie es durch einen plüschigen Hollywood-Film turnt, mit der einen Hand das Nannerl neckt und mit der anderen die Szenerie in den genialischsten Klaviersonaten festhält. An diesem Bild hat sich die Nachkriegsgeneration ergötzt und festgehalten, bis es in den Siebziger Jahren schmolz und nichts mehr übrig blieb von dieser klebrigen Zuckerbäckerwelt.

Danach wurde Mozart über Nacht zum Sozialrevolutionär. Heute ist er ein Macho, der die Entwicklung des vermeintlich gleichrangigen Talents der Schwester verhinderte. Was das mit der Pianistin Haebler zu tun hat? Ziemlich viel, denn sie hat den Grundstein gelegt für eine Mozart-Rezeption, die weit über die reine Instrumentalmusik hinaus eine Neutralität der Kunst behauptete, die von vielen Musikliebhabern sehnlichst gewünscht und von anderen umso vehementer ins Tagespolitische gezerrt wird. In der Oper ist das weniger problematisch als in der Instrumentalmusik, der man dann aufrührerische Klänge ablauscht und umstürzlerische Harmonien.

Davor zumindest bewahrt Haebler, und an einigen Stellen gibt sie sogar der Vermutung Raum, sie wisse um Alternativen, um das Eigentliche von Mozarts Musik, die natürlich wie alle große Kunst eine Erweiterung des Erlebnisraumes ist, keine Beschränkung aufs Spießertum, und auch als Ablenkungsmanöver von der Realität nur sehr bedingt taugt. Es sind die langsamen Sätze, in denen das unsentimentale Spiel Haeblers mehr Emotionen zutage fördert als es eine bisweilen bis an die Grenze des Hysterischen getriebene spätere Aufführungspraxis erzwingen will. Was man am Klavier nicht ausdrücken kann, darüber muss man schweigen. Also darüber mit Würde und Selbstbeherrschung hinwegkommen.

Das klingt ein bisschen spröde und manchmal ein bisschen langweilig und ist auch kein tragendes Konzept, aber im Einzelfall hilft es, die Musik nicht in Bedeutung zu ersticken. Darin vielleicht liegt das Meisterliche der Pianistin Ingrid Haebler.

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