Süddeutsche Zeitung

Musikfest Berlin:Eigensinn und Triumph

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Beim Musikfest Berlin geben die Philharmoniker aus Odessa ein einmaliges Gastspiel mit drei hierzulande unbekannten Komponisten aus der Ukraine.

Von Wolfgang Schreiber

Drei in der Berliner Philharmonie noch nie gespielte ukrainische Komponisten, ein mit Menschen aus der Ukraine gut unterfüttertes Saalpublikum, sowie das hierzulande kaum bekannte Philharmonische Orchester Odessa. Mit dessen Einladung zu einem einmaligen Konzert schafft das Musikfest Berlin eine kunst- und kulturpolitische Sensation, neben der deutschen Kulturstaatsministerin Claudia Roth sitzend der Ukraine-Botschafter Andrej Melnyk. Spürbar im Saal sind Freude, Trauer, Beben, Lebendigkeit. Als der Chefdirigent des Orchesters Hobart Earle auf dem Podium seine Ansage auf Deutsch macht und die Botschaft in ukrainischer Sprache wiederholt, da brandet eine Begeisterung auf, wie man sie hier selten vernommen hat.

Vertraut mit den berühmten Orchestern aus Amsterdam, Philadelphia und Cleveland, ihrem perfekten Glanz bei diesem Musikfest, wollte man jetzt aber auch wissen: Kann das 1937 gegründete Philharmonische Orchester Odessa im internationalen Musikbetrieb künstlerisch punkten? Das klare Ja hat zwei Gründe. Zum einen ist das Ensemble aus der Kulturstadt Odessa musikalisch zu einer rundum überzeugenden, sogar brillanten Leistung fähig. Was zum anderen hat das mit seinem engagiert fähigen Chefdirigenten Hobart Earle zu tun hat.

Der 1960 als Sohn amerikanischer Eltern in Venezuela geborene, in Wien, London und Princeton ausgebildete Dirigent Hobart Earle hat die Stadt Odessa und deren Philharmoniker schon in den neunziger Jahren kennen und lieben gelernt. Seit Jahren steht er als Gastdirigent internationaler Orchester von Köln über Sankt Petersburg bis New York und Taipeh, an der Spitze der Odessa-Philharmoniker. Hat mit ihnen musikalische Homogenität und flexible Spielfreude entwickelt. Und sich von den Klangsprachen ukrainischer Komponisten anziehen lassen. Drei in Deutschland nie gespielte Komponisten der Ukraine stehen vor der Pause auf dem Programm: zwei charmante Orchesterminiaturen und ein Schwergewicht von Klavierkonzert.

Myroslav Skoryk (1938-2020), auch Pianist und Musikwissenschaftler aus Lwiw, der in Moskau bei Dmitri Kabalewski studierte, hat ein mit "Dytynstvo" (Kindheit) betiteltes Stück komponiert. Hobart Earle widmet, so seine Ansage, das heiter zugespitzte Stück allen Kindern der Ukraine heute.

Ein Ereignis ist die gefeierte Pianistin Tamara Stefanovich

Mykola Lysenko (1842-1912), der Altersgenosse Tschaikowskys, der ihn gefördert hat, erfand eine geschmeidig schöne "Elegie", die der Dirigent attacca auf Skoryks Kinderstück folgen ließ. Lysenko, am Konservatorium in Leipzig ausgebildet, später Schüler Nikolai Rimsky-Korsakows in St. Petersburg, Musiker und Naturwissenschaftler, hat die Oper "Taras Bulba" komponiert, ihre wuchtig aufgeladene Ouverture dirigierte Hobart Earle am Ende des Konzerts als zweite Zugabe. Lysenko ist der Vater der ukrainischen Musik, er ist auch der Namensgeber des Konservatoriums in Lwiw, des Operntheaters in Charkiw und des Säulensaals in der Nationalen Philharmonie zu Kiew.

In einer ganz anderen musikalischen Welt spielt das sehr eigenartige Klavierkonzert von Alemdar Karamanov (1934-2007), der in Simferopol auf der Halbinsel Krim geboren und am Moskauer Konservatorium ausgebildet wurde, dort den herrschenden Musikstil eines "sozialistischen Realismus" abzulehnen lernte und daraufhin in sowjetmusikologische Ungnade fiel. Für den Rest seines Lebens kehrte er nach Simferopol zurück. Schostakowitsch nannte ihn "ein interessantes und eigenständiges Talent . . ." Karamanov komponierte 24 sakral getönte Symphonien, näherte sich der christlichen Mythologie an. Und allein die knorrige Originalität seines hier aufgeführten dritten Klavierkonzerts von 1968, genannt "Ave Maria", genügt, den gedanklichen Eigen-Sinn dieses Komponisten zu verdeutlichen.

Das Ereignis in Karamanovs Klavierkonzert ist die international gefeierte Pianistin Tamara Stefanovich, die dem Zusammenspiel von Spiritualität und Virtuosität mit pianistischer Kontrolle und emotionaler Spannung zum blühenden Leben verhalf. Stefanovich hat die Partitur nur für diese einzige Darbietung in Berlin studiert, sie brachte für den Strecktest des unendlich langen und langsamen Satzes aus schwebenden Wellensequenzen eine Engelsgeduld zum Meditieren an den Tasten auf. Das erinnerte an religiöse Litaneien. Und sie fand gemeinsam mit den Philharmonikern aus Odessa, die am Ende die zweite Symphonie von Jean Sibelius meisterten, Wege, das konzertante Dialogisieren durch die Kunst langen Atmens zu ersetzen.

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