Süddeutsche Zeitung

Patrick Modiano: "Unterwegs nach Chevreuse":Vorsicht

Lesezeit: 3 min

Die Spur führt ins Grüne: Patrick Modiano verlässt die Erinnerungslandschaft Paris. Und sein poetisches Verfahren wird transparent wie nie.

Von Joseph Hanimann

Für das Unheimliche, das aus dem Erinnerungslabyrinth von Patrick Modianos Romanen strahlt, klingt dieser Name Chevreuse fast etwas zu sanft. Eher hätte er zu der bei Marcel Proust heraufdämmernden Sehnsucht nach Kinderglück gepasst. Tatsächlich enthält sein jüngstes Buch "Unterwegs nach Chevreuse" Anklänge an Proust wie kaum ein anderes zuvor. Hinter dem Haus, das im Roman eine wichtige Rolle spielt, liegt ein terrassenartig ansteigender Garten mit einer rostigen Eisentür in der Umfassungsmauer, die auf eine Waldlichtung führt. Ähnlich wie auf den Spazierwegen bei Proust eröffnet sich da in der Landschaft eine neue Welt: ein Herrschaftsgebiet aus Wäldern, Teichen, Hainen und Parkanlagen namens "Chevreuse".

Die Spurensuche durch Modianos memoarchäologisches Stadtgelände Paris führt diesmal also hinaus ins Grüne, ins liebliche Vallée de Chevreuse der südlichen Vorstadt. Das Bemühen Jean Bosmans', der Hauptfigur des Romans, seine wie verklumpte Algen ins Bewusstsein geschwemmten Erinnerungsfetzen in einen Zusammenhang zu bringen, ist deshalb aber nicht weniger anstrengend. Denn für die Glücksmomente der Proust'schen Spontanerinnerung aus der Teetasse ist bei Modiano kein Platz.

Über die grammatikalische Steiltreppe der Vorvergangenheitsform stolpern wir schon im ersten Satz mit der Hauptfigur hinab in weit zurückliegende Ereignisse. Der Schriftsteller Bosmans notiert Namen, Liedpassagen und tausend weitere Einzelheiten, aus denen er sich Aufschluss erhofft über die seltsamen Begegnungen, Gespräche und Autofahrten, die fünfzig Jahre zuvor zwischen einer Stadtwohnung im Pariser Viertel Auteuil und dem Haus draußen in Chevreuse stattfanden. Als Kind war er in jenem Haus Zeuge gewisser Vorgänge gewesen, die er nicht verstand, und als Zwanzigjähriger sah er sich dann in die Machenschaften eines undurchschaubaren Kreises von Leuten hineingezogen, die offenbar etwas Unbestimmtes von ihm wollten. "Sei vorsichtig!", warnen ihn manche Freundinnen.

Vor allem in der Wohnung von Auteuil, die tagsüber hell und klar in der Frühlingssonne strahlt, nachts aber Treffpunkt obskurer Gestalten ist, stoßen zwei unvereinbare Parallelwelten aufeinander. Wenn Bosmans die seit Jahrzehnten nicht mehr gültige Telefonnummer dieser Wohnung wählt, AUTEUIL 15.28, sind im Knistern der Leitung Stimmen zu hören wie aus dem Jenseits, die miteinander Verabredungen treffen. Stellt er hingegen die gängige Nummer 288.15.28 ein, klingt alles normal. Zwielichtig geistern durch die Episoden der Erinnerungsarbeit bei Modiano Momente von Thriller und Krimi.

"Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis", hatte Bosmans als Kind ihm Haus von Chevreuse einmal die Besitzerin am Telefon sagen gehört, ohne zu verstehen, worum es ging. Mit jenem Guy Vincent hängt offenbar zusammen, dass später drei Männer dem Zwanzigjährigen nachstellten, weil er ein Geheimnis jenes Hauses kennt. Die Hintergründe dieser Nachstellungen verfolgen den jungen Mann Tag und Nacht, denn sie lassen wie aus einem langen Winterschlaf in der Erinnerung längst vergessene Figuren erwachen. Das beste Mittel, sie unschädlich zu machen, sei es, sie in Romanfiguren zu verwandeln, sagt er sich.

Nun ist Patrick Modiano alles andere als ein Autor für Schriftstellerromane und das Ringen um künstlerische Ausdrucksformen am Schreibtisch. Vielmehr lässt er seinen Helden unermüdlich die Orte seines Lebens nach den verblassenden Spuren seiner Kindheit ablaufen. Schließlich steigt der junge Mann in den Zug nach Saint-Raphaël an der Côte d'Azur. Im klaren Licht der sommerlichen Mittelmeersonne will er seinen Roman zu Papier und gleichzeitig die Gestalten zum Verschwinden bringen, die ihn einen Winter und einen Frühling lang im schummrigen Paris gepeinigt hatten. Und tatsächlich: "Seite um Seite zerrann beim Schreiben ein Abschnitt seines Lebens oder wurde vielmehr aufgesaugt wie von einem Blatt Löschpapier."

Indirekt enthält dieser Roman also auch ein poetologisches Bekenntnis zur erlösenden Wirkung des Schreibens. Das macht diesen in der langen Reihe von Modianos Romanen zu einer Besonderheit. Und als vorzügliche Kennerin des Autors hat Elisabeth Edl als Übersetzerin diesen Aspekt mit allen Nuancen in ihren Text einzufügen gewusst.

Außer in seiner Nobelpreisrede 2014 hat Modiano sich bisher nie so deutlich über sein Schreiben geäußert. Literatur ist für ihn, so kann man aus diesem Buch schließen, nicht nur ein Mittel, Personen aus der Vergessenheit auftauchen und sie dorthin wieder zurücksinken zu lassen. Sie ist auch Vermittlerin zwischen unterschiedlichen Standpunkten auf der Grenzlinie von Fantasie und Wirklichkeit.

Jean Bosmans brauchte die obskuren Gestalten, die ihm nachstellten, um auf die Spur einer verlorenen Kindheitserinnerung zu kommen. Und jene Gestalten wiederum brauchen ihn wegen seines Wissens um das Geheimnis im Haus. Im Schreiben wird diese Gegenseitigkeit eingelöst und zugleich in ihrer Unvereinbarkeit bestätigt, denn "jene Personen, die dich als Zeugen brauchen, haben nicht die gleichen Gründe wie du für die Suche nach der verlorenen Zeit".

Wo Prousts Figur Marcel in seinen Glücks- und Schmerzempfindungen vereinsamte, stellt Jean Bosmans bei Modiano sich schreibend neben seine Figuren. Am Schluss sitzt er, wieder zurück in Paris, in einem Café. Sein Roman ist fertig, und es ist ihm, als hätte er gerade ein Gefängnis verlassen. Da fällt ihm auch jener Satz wieder ein, der ihn seit der Kindheit verfolgte: "Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis." Nach kurzem Zögern ruft er, in Gedanken noch bei jenem Mann, den Kellner: "Zwei Bier. Und alle beide ohne Blume, bitte." Solch großzügige Spendierfreude ist man bei den modernen Romanhelden nicht mehr gewohnt.

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