Süddeutsche Zeitung

Oper:Und der Hubschrauber rattert dazu

Lesezeit: 6 min

Fünfzehn Stunden Musik aus Karlheinz Stockhausens legendärem Opernzyklus "Licht" - ein Projekt der Superlative beim Holland-Festival, in einem ehemaligen Gasometer in Amsterdam.

Von Reinhard J. Brembeck

Orange, grün, blau, rot. Vier junge Frauen in weißen Hosen, über den weißen Hemden trägt jede in einer anderen Farbe Gaze und Federfirlefanz. Das ist das Pelargos-Streichquartett. Im Moment aber sind sie weit voneinander entfernt. Denn jede der vier sitzt in einem über Amsterdam und dessen Hafen fliegenden Hubschrauber, mit einem Kopfhörer auf den Ohren und auf ihrem Instrument rasante Wirbel spielend, die sich mit dem rhythmischen Rotorblättergeratter mischen. Das Publikum im Gashouder, dem als Konzertsaal genutzten kreisrunden riesigen Gasometer der ehemaligen Amsterdamer Gasfabrik, schaut amüsiert und gebannt auf vier Bildschirme und hört, was die Musikerinnen bei ihrem Ausflug gen Himmel zusammen mit den Flugmonstern an Klängen produzieren.

Zuvor waren die Pelargos-Frauen auf der kargen Bühne des Gashouders zu erleben, zusammen mit der Moderatorin und Journalistin Nicole Terborg, die sie auf Niederländisch befragt und dann aus dem Saal geleitet, wo es mit Transportgefährten zu einem nahen Feld geht. Dort starten und landen die Hubschrauber, alles gefilmt und in den Saal übertragen. Zuletzt kommen die Musikerinnen samt den Piloten zurück in den Gashouder und werden vom amüsierten Publikum nach einer Stunde wie Popstars gefeiert.

Stockhausens "Licht" besteht aus sieben nach den Wochentagen benannten Opern

Ausgedacht hat sich dieses Spektakel Anfang der Neunzigerjahre der innovativste und unkonventionellste aller Komponisten, Karlheinz Stockhausen (1928 - 2007). Dieses "Helikopter-Streichquartett" ist das ungewöhnlichste im über 250 Nummern umfassenden Werkkorpus Stockhausens und sein am schwierigsten zu realisierendes Stück. Uraufgeführt wurde das Quartett 1996 beim Holland-Festival, dem größten Musik- und Theaterevent des Landes, und auch jetzt wird es wieder vom Holland-Festival gezeigt, im Rahmen einer dreitägigen Megashow von Stockhausens legendärem Opus "Licht".

"Licht" besteht aus sieben nach den Wochentagen benannten Opern. Die drei Protagonisten - der Musiker Michael, die Urmutter Eva und der Bösewichtübervater Luzifer - sind je dreifach besetzt mit einem Sänger, einem Tänzer und einem Instrumentalisten. Mithilfe dieser drei Prototypen beschwört Stockhausen die grundlegenden Mysterien des Menschseins aus dezidiert männlicher Sicht. Geburt, Konkurrenz, Liebe, Hass, Krieg, Verrat, Tod, Verführung, Religion, Allgegenwart des Bösen, mystisch jubelnde Vereinigung: Hier fehlt nichts, was ein Männermenschenleben übers Vegetative und Merkantile hinaushebt. Stockhausen hat 26 Jahre an "Licht" gearbeitet und 29 Stunden Musik dafür komponiert. Das sind doppelt so viele wie im bis dato längsten Opernprojekt, Wagners "Nibelungen" mit ihrem ähnlich umfassenden Welterkläreranspruch.

Die sieben "Licht"-Teile wurden noch nie am Stück aufgeführt. Das Holland-Festival aber bietet jetzt mit dem fünfzehnstündigen "Aus Licht" die Hälfte der "Licht"-Musik, es ist die bisher größte Stockhausen-Retrospektive überhaupt. Die Flötistin, Stockhausen-Muse und -Nachlasshüterin Kathinka Pasveer und Regisseur Pierre Audi, zwanzig Jahre lang der Opernchef in Amsterdam, haben zentrale Szenen aus "Licht" zu einem neuen Parcours zusammengestellt. An den ersten beiden Tagen werden die drei Protagonisten vorgestellt, den dritten Tag dominieren große Ensembles und das versöhnlich verklärende Finale der sieben Engels-Chöre, die durch den Raum wandeln und in einer großen Apotheose Licht zu Klang werden lassen.

"Aus Licht" ist ein Projekt der Superlative. Es gab 450 Proben in drei Jahren, das Konservatorium in Den Haag hat dazu einen Masterstudiengang aufgelegt, die 400 Musiker tragen von Wojciech Dziedzic erdachte, fantastische Kostüme: schlichte Uniformen mit Gestell darüber, Rauschkleider, bunte T-Shirts, Vogelfedergewänder. Die nüchterne Zementhalbkugel des Gashouders dagegen bleibt fast naturbelassen. Es gibt nur ein paar große Leinwände, um die live gefilmte Aktion zu zeigen, eine breite Flachbühne an der einen Seite und ihr gegenüber ein weit in die Höhe ragendes Bühnengestell, auf dem ein Riesenblasorchester mit Luzifer an der Spitze dessen Tänze spielt und später ein Chor als Weltparlament zum Thema Liebe tagt.

Ansonsten gehört der Raum dem Lichtdesigner Urs Schönebaum. Der hat in den schwarzen und oft dunklen Saal dünne lange Lichtbänder gespannt, die den konvexen Formen des Raums folgen und immer wieder in den verschiedensten Farben und Kombinationen leuchten. Gern zeigt er auch senkrechte Lichtsäulen, deren Blau betörend atmosphärisch ist. Hier kann sich der Hörer geborgen fühlen wie unter einem Sternenhimmel in einer warmen Sommernacht, das Wetter in Amsterdam an diesem Premierenwochenende ist entsprechend. Auf diese jubelnde Geborgenheit des Menschen im Universum, das setzt Schönebaum hinreißend sinnig um, zielt Stockhausens "Licht".

Das geht weit über den "Ring"-Wagner hinaus, nicht nur wegen der Hubschrauber. Der Tanz fehlt in Wagners Gesamtkunstwerk, er bestimmt aber jeden Moment in "Licht". Keine Note, die nicht getanzt würde, mit Gesten begleitet, in helle Farben getaucht. So auch "Kathinkas Gesang", eine der grandiosesten "Licht"-Szenen. Das ist ein helles, von keinerlei Verzweiflung gezeichnetes Requiem nicht nur für den Bösewicht Luzifer, sondern für die ganze Menschheit - ein fast einstündiges Solo für Flöte, sporadisch begleitet von sechs spacig gekleideten Schlagwerkern.

Die Flötistin Marta Goméz Alonso, sie trägt wie von Stockhausen gewünscht ein Katzenkostüm, spielt wie so viele der 400 überwiegend jungen Musiker an diesen wunderlich herrlichen drei Tagen begeistert auswendig, was dieser Musik einen ungemein kreatürlichen Anschein gibt. Überhaupt hat Stockhausens "Licht"-Klangwelt so gar nichts mit der damals und noch heute gängigen Klassikavantgarde zu tun. Diese Stücke sind gut zu hören, formal immer stimmig, schockieren nie und bilden stets einen meditativen Grundton aus.

Das gilt selbst für die wild choreografierten Kampfszenen zwischen Michael (Trompetensoldaten) und Luzifer (Posaunensoldaten), eine Mischung aus "Herr der Ringe", "Star Wars" und "Captain America". Nichts, schon gar nicht die Welt des Pop und des Trash, war Stockhausen fremd. Genauso wie er sich schamlos der gängigen Hochkulturikonen bedient. So wird Michael von Eva in einer zugleich gesungenen und trompeteten Pietà betrauert, so findet sich in den vielen Bläserstücken die Aggressivität und der Weltanspruch jener Toccata wieder, mit der Claudio Monteverdi sowohl seinen "Orfeo" (die erste Oper von Rang) eröffnet wie auch die "Marienvesper" (das erste große Oratorium der Geschichte), so erscheint eine Flötistin als Nachfahrin des Rattenfängers von Hameln, die einen ganzen Kinderchor aus dem Gashouder ins Ungewisse lockt.

Bei den rein elektronischen Nummern, die als "Gruß" oder "Abschied" die einzelnen Opern umrahmen, sitzen manche Zuhörer im Lotossitz und meditieren. Dazu laden die endlosen Klangbänder ein, sie sind hörbar gewordene Sphärenmusik. Wer dabei aber ans "Raumschiff Enterprise" denkt, liegt auch nicht ganz falsch. Der tief religiöse Stockhausen, der täglich betete, war in seiner Begeisterungsfähigkeit so maßlos und naiv wie ein Kind. Jedes Phänomen, Helikopter wie Klangschalen, Esoterik, Zimbeln, Abzählreime, einfach alles brachte er in seinem "Licht"-Kosmos unter, Irdisches befremdete ihn genauso wenig wie Metaphysisches.

Dieser Synkretismus wird ihm gern vorgeworfen. Dabei inspirierte ihn der zu seinen beständigen Grenzüberschreitungen. Stockhausen ist kein destruktiver Zerstörer, sondern ein konstruktiver Weiterdenker des Vorhandenen. Nie schreibt er Oper wie gewohnt, oder wie es viele seiner Kollegen bis heute tun. Immer geht der stets Neugierige nicht nur ein, zwei oder drei Schritte übers Bekannte hinaus, sondern immer gleich meilenweit. Und dort, im Unbekannten, findet und erschafft er dann häufig das auf Anhieb überzeugend Neue.

Die Regie lässt Sänger und Musiker wie freundliche Außerirdische durch den Raum gleiten

Textvertonung im herkömmlichen Sinn findet fast nie statt. Nur in den Terzetten, die Michaels Musikerjugend im Nazi-, Kriegs- und Nachkriegsdeutschland erzählen und in denen Autobiografisches aufscheint, gibt es eine traditionelle Dramaturgie und Textvertonung, wird chronologisch raffend erzählt. Immer wieder erstaunen neben den Blechbläserlawinen die Chöre. In knöchellang weißen Kleidern und mit Kerzen in den Händen strömt eine Mädchengruppe wie zu einer Santa-Lucia-Prozession in den Gashouder und singt eine Litanei, die ihre Herkunft von den Vespern Tschaikowskys und Rachmaninows nicht verleugnet, deren dunkel erotische Akkorde aber so gar nichts mit der vertrauten Dur-Moll-Welt zu tun hat.

Oft mischt sich ein Klavier ins Geschehen, dann wieder sind es Synthesizer, und der Synthi-Fou, eine typische Stockhausen-Kreation, bringt mit einem wirbelnden Tastentanz den Kampf der Michael- und der Luzifer-Anhänger zu einem rätselhaft komödiantischen Ausgang. Ein Konzertflügel begattet eine Eva-Skulptur - solche Einfälle haben dem Komponisten viel Spott eingetragen. Die Amsterdamer Aufführung, die auf Unter- oder Übertitelung verzichtet und somit den oft kaum verständlichen Text marginalisiert, mildert solche Lächerlichkeiten jedoch ab.

Pierre Audi, ein Anhänger von Peter Brooks "Armen Theater", verzichtet auf jede Deutung. Er lässt die Sänger und Musiker wie freundliche Außerirdische durch den Raum gleiten. So wird auch die unangenehme Kontrollmanie Stockhausens ausgeblendet, der in einem letzten Aufbäumen des Serialismus alle "Licht"-Momente aus einer klitzekleinen "Superformel" ableitete und nicht das kleinste Detail dem Zufall oder dem Gutdünken der Interpreten überließ. Audi vertraut völlig auf Stockhausens oft überirdisch brillant komponierte Musik, der trotz des religiösen Kollektivanspruchs alles Missionarische fehlt. Der Zuhörer ist in diesen drei Tagen völlig auf sein eigenes Sensorium verwiesen, um diesen großen Welttheater einen persönlichen Sinn zu verleihen. Was häufig funktioniert. Auch wenn das "Helikopter-Streichquartett" dann doch nur als spektakuläre Talkshowparodie in Erinnerung bleibt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4472366
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.