Süddeutsche Zeitung

Oper:Großes Tennis? Leider nicht

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Der Regisseur Andriy Zholdak verspielt Tschaikowskys selten gezeigte Oper "Die Zauberin".

Von Ekaterina Kel

Die Frau ist gestorben, tot ist auch ihr Liebster, der Prinz, ermordet durch die Hand seines Vaters, des Fürsten. Ein dröhnendes Tutti bahnt sich den Weg aus dem Orchestergraben. Der perfekte Augenblick, um all das Unglück zu seinem verdienten Schluss kommen zu lassen. Am besten so, dass es den Zuschauern noch nach der Vorstellung in den Ohren klingt. Schließlich ist "Die Zauberin" von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky eine Tragödie. Aber nichts davon. Stattdessen hört man: einen Tennis-Aufschlag. Der Schläger trifft auf den Ball und auf der Bühne triumphiert ein glatzköpfiger Mann mit einer großen, schwarzen Virtual-Reality-Brille.

In seiner Inszenierung an der Opéra National de Lyon verschenkt der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak mit dieser Idee den Schluss. Er ist mit eigenwilligen Bühnenfassungen von Dostojewskis "Idiot" oder Kafkas "Verwandlung" aufgefallen, seine Arbeiten werden international gezeigt. Auch weil Intendant Serge Dorny der designierte Intendant der Bayerischen Staatsoper ist, verspricht diese Aufführung viel Aufmerksamkeit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Zudem ist die "Zauberin" die Wiederentdeckung einer kaum bekannten Tschaikowsky-Oper. Sie gehört nicht zum üblichen Repertoire westlicher Häuser, auch wenn sich kluge Regisseure ihrer angenommen haben, Tatjana Gürbaca 2011 in Antwerpen oder Christof Loy 2014 in Wien.

Doch Zholdaks Zuschauer ließen sich von alledem nicht beeindrucken und reagierten mit so beherzten Buh-Rufen (und verhaltenem Applaus), dass der Regisseur schnell und noch vor seinem Team wieder von der Bühne verschwand. Zholdak ist einfach nicht bis zum dramaturgischen Kern vorgedrungen und konnte ihn deshalb auch dem Publikum nicht vermitteln. Mit unnötigen, effekthascherischen Tricks versuchte er diese Schwäche zu kaschieren. Da wird ein mehrere Meter großer, gekreuzigter Jesus aus Holz an die Wand einer gotischen Kathedrale gehängt, in dessen Augen kleine Kameras eingesetzt waren. Da gibt es zwei junge Frauen mit schwingenden Röcken und strengen Blicken, die Schuluniformen nach japanischer Manga-Manier trugen und als sexy Ninja-Girls Schwerter schwingen. Auf drei beweglichen Bühnenelementen (Kirche, Wirtschaft, Schlafzimmer) wird parallel und leider oft unkoordiniert gespielt. Das komplizierte Simultangeschehen, das Nachaußenkehren klischeebeladener sexueller Fantasien und das Bedienen aktueller Debatten (Überwachung, Moral der katholischen Kirche) lenkt von der Geschichte ab.

Und was für einer! Tschaikowsky nahm ein etwas unübersichtliches Stück von Ippolit Spazhinsky als Vorlage für seine Oper, die sich an zwei Frauenfiguren abarbeitet. Die junge Nastasia, genannt Kuma, ist Betreiberin einer Wirtschaft in der Nähe von Nischni Nowgorod im Russland des 15. Jahrhunderts, in der fern von den Augen des Fürsten die Libertinage gepflegt wird. Kuma ist für ihre Schönheit und Gastfreundschaft bekannt, ihr eilt der Ruf voraus, eine Zauberin zu sein, die Männer mit übernatürlichen Kräften betört. Ihre Gegenspielerin ist die eifersüchtige Frau des Fürsten. Sie hat Angst, ihren Mann an Kuma zu verlieren und will sie deshalb töten.

Passend inszeniert Zholdak die beiden als absolute Gegensätze, auf der einen Seite die unschuldige Jugend im flammenden Rot, auf der anderen die verhärtete Herrscherin mit großer Frisur und in dunklen Farben. Auch die Besetzung ist klug: Elena Guseva als Kuma strahlt eine große Spielfreude und Offenheit aus, ihr üppig gepolsterter Sopran hat so viel Kraft, dass er den gesamten Bühnenraum für sich beanspruchen kann. Ksenia Vyaznikova als Fürstin lässt ihren Mezzo sehr eindrucksvoll flattern und zittern, flehentlich und verzweifelt, man muss mit ihr mitfühlen, auch wenn sie die Mörderin ist. Ihr Duett mit dem Sohn geht unter die Haut. Neben den Frauen überzeugen Evez Abdulla als launischer Fürst mit seinem stattlichen Bariton und Migran Agadzhanyan als Prinz mit einem für seine Rolleninterpretation passenden, weil schnulzigen Tenor.

Tschaikowsky beginnt mit üppigen Chorszenen und lässt fast alle Nebenfiguren am Anfang gleichzeitig auftreten. Das ist ein großes Durcheinander, das - sorgfältig geordnet oder explodierend - spannend zu sehen wäre. Zholdak aber bleibt unentschieden, lässt die Szenen einfach geschehen, ja er lässt noch weitere fünf stumme Darsteller erscheinen. Zudem macht er die Nebenfigur des fürstlichen Handlangers Mamirov (Piotr Micinski mit lustvollem Bass) zur szenischen Hauptfigur. Der mutiert zu einem heuchlerischen Pfaffen, der sich die erwähnte VR-Brille aufsetzt. Alles, was wir sehen, wird so zur Fantasie dieses Lüstlings und Apparatschiks. Das verkompliziert die ohnehin komplexe Oper unnötig und verfehlt die Geschichte, die zudem kaum jemand kennt.

Der Chefdirigent der Lyoner Oper Daniele Rustioni schafft es nicht gegenzusteuern. Zu oft minimiert er das, was Tschaikowsky groß und üppig angelegt hat, zu gedrungenen und schüchternen Melodien. Dort, wo ein A-capella-Ensembleauftritt kluger Nuancierung bedarf, entsteht ein Mischmasch gleichberechtigter Stimmen. Oft lässt Rustioni einzelne Effekte herausstechen und vernachlässigt die Glättung zum großen Ganzen.

Später wächst dem Lüstling Mamirov ein Teufelsschwanz, die Figuren schauen immer wieder in verschiedene Spiegel, jedes Mal erfüllt die Symbolik aber andere Zwecke. Die Ninja-Girls, deren Rolle bis zuletzt unklar bleibt, werden von einem Kameramann live gefilmt und rechts und links von der Bühne riesengroß projiziert, und Jesus geht auf einer Projektion im Wasser mit vielen Blasen unter. Das alles wirkt wie ein launisches Sammelsurium aus Ideen, das weder sinnstiftend wirkt noch die Kraft hat, das Narrativ überzeugend zu brechen.

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Quelle:
SZ vom 27.03.2019
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