Süddeutsche Zeitung

Oper:Der Einbruch der Barbarei

Lesezeit: 4 min

Regisseur Tobias Kratzer hat dieses Jahr in Bayreuth triumphiert. Jetzt inszeniert er Rossinis "Tell" in Lyon.

Von Egbert Tholl

Das berühmteste Stück aus Gioachino Rossinis vierstündiger Oper "Guillaume Tell" ist die Ouvertüre. In vier Sätzen erzählt Rossini hier die Handlung der Oper und die Dialektik seines letzten Werks fürs Musiktheater zwischen Naturbeschreibung und Politik. Dieses Vorspiel beginnt mit einem Solocello, dem gleich vier weitere Celli zur Seite treten. Auf der Bühne der Opéra de Lyon sitzt eine Cellistin, neben ihr tanzt ein Paar in Anzug und Abendkleid, tanzt kultiviert und versonnen Poesie und Anziehung.

Die Bühne ist ein weißes Konzertpodium, drumherum stehen schwarze Stühle, die auf Zuschauer warten, der Hintergrund ist ein riesiger Bergprospekt, Nebel wabert um Feld und Eis. Während die Celli süß von Idylle singen, taucht ein Typ auf, gekleidet wie ein Mitglied der Gang von Alex aus Kubricks Film "A Clockwork Orange", also lange weiße Unterwäsche, Suspensorium über dem Gemächt, schwarze Melone, Baseballschläger. Weitere solche Gestalten kommen hinzu, lugen der Cellistin über den Rücken, zupfen an den Noten, das Tanzpaar verharrt in Irritation. Schließlich flieht die Musikerin - eine Statistin, wie man gleich merken wird -, die Typen zerschlagen das Cello, das Tanzpaar flieht gleichermaßen, zurück bleiben das zerstörte Instrument, zerzauste Noten.

Diese Inszenierung der Ouvertüre ist prägnant und brillant, das Böse vernichtet die Kultur. So wie Rossini in der Ouvertüre seine ganze Oper erzählt, so erzählt Tobias Kratzer hier seine ganze Inszenierung. Wesentlich Neues kommt in den folgenden Stunden nicht hinzu.

Unter den Tisch fallen alle Aspekte, in denen Rossini Natur malt

Kratzer ist nicht erst seit seinem Bayreuther "Tannhäuser"-Triumph in diesem Sommer derzeit einer der spannendsten Opernregisseure. Mit äußerster Konsequenz erzählt er stets mit den Motiven einer Oper eine Geschichte, auf die man zunächst oft gar nicht käme, die dann aber oft außerordentlich gut funktioniert und gar nicht wie Tünche, sondern wie aus dem Stück heraus entwickelt wirkt. Für Rossinis "Tell", uraufgeführt 1829 in Paris, formten fünf Autoren Schillers Drama in ein Libretto um, das vom Freiheitskampf der Schweizer gegen die Habsburger Okkupationsmacht erzählt. Mit dieser historischen Situation hat Kratzer nicht viel am Hut, er will viel mehr allgemeingültig sein. Und deshalb geht es hier um den Kampf von Kultur gegen Unkultur.

Unter den Tisch fallen dann alle Aspekte, in denen Rossini Natur malt, auch wenn die im ungeheuer plastischen, zupackenden Dirigat von Daniele Rustioni ausgeformt werden. Der Sturm auf dem Vierwaldstättersee, den Tell zur Flucht aus des Landvogt Geslers (Jean Teitgen) Fängen nutzt und der in der Ouvertüre anklingt, ist hier kein Brausen der Natur mehr. Er kündet von der Raserei des Unverstands - im Vorspiel tritt Tell auf und klaubt erschüttert die Reste des Cellos zusammen.

Doch noch feiert das Schweizer Volk im ersten Akt sich selbst, speist Familie Tell am Tisch auf dem Podium, wirkt das Volk wie ein Konzertpublikum in spannungsfroher Erwartung. Einen Bogenschießwettbewerb gibt es bei Kratzer an dieser Stelle nicht, Tells Sohn Jeremy gewinnt aber sein Geigenvorspiel. Die Figur dieses Sohnes erfindet Kratzer wunderbar: Er wird gespielt von einem kleinen Jungen und einer jungen Frau, die wie seine große Schwester wirkt, was szenisch große Freiheiten ermöglicht. Die junge Dame leiht Jeremy ihre Stimme, Jennifer Courcier macht das mit dem blühenden Charme der Jugend.

Das Fest des ersten Akts geht weiter, drei Hochzeitspaare tanzen kleine Erzählungen von Liebe, die der Choreograf Demis Volpi alten Schweizer Tänzen abgeschaut haben könnte. Von Ferne tönen die Hörner von Geslers Mannen; wenn sie erklingen, läuft schwarze Farbe den Alpenprospekt hinunter. Am Ende werden die Berge unter dem Schwarz verschwunden sein. Überhaupt braucht Kratzer, für ihn unüblich, diesmal kein Video, alles wird analog dargestellt, verdeutlicht nur durch dieses Bild seines Ausstatters Rainer Sellmaier von den sich verdunkelnden Alpen.

Selbst die Liebe fällt hier hinter der Macht der Masse zurück

Schließlich bricht die Barbarei herein. Der alte Melcthal, Vater von Tells Mitstreiter Arnold, wird von der "Clockwork Orange"-Horde auf offener Bühne, misshandelt, geblendet, erschlagen - zuvor hat der honorige Tomislav Lavoie mit einem Taktstock Volkes Chor dirigiert, jetzt bekommt er ihn in die Augen. Hier setzt die Umdeutung der Kultur ein, der im zweiten Akt beim Rütli-Schwur in eine Orchesterversammlung mündet, an deren Ende alle Choristen auf der Bühne ihre Instrumente zerlegen und daraus Waffen basteln. Der Boden einer Geige ergibt, an eine Klarinette geklebt, eine veritable Doppelaxt.

Kratzer ist konsequent, aber subtil ist hier nichts. Das in die Enge getrieben Kulturvolk gibt selbst seine Kultur auf, um sich zu wehren. Jeremy verbrennt später Notenblätter als Lichtsignal für den Aufstand, Tells "Bogen" ist eine aus einem Fagott gebaute Armbrust, seine Pfeile sind Geigenbögen.

In seiner Klarheit hat das über die lange Strecke etwas Ermüdendes, doch nach der Pause wird die Gewalt von Geslers Mannen wirklich beklemmend, wenn die Schweizer gezwungen werden, in fremden Kostümen fremde Tänze - im Original dargestellt von einer Tiroler Truppe - aufzuführen. Daraus entsteht die Revolution aus Entrüstung, fieserweise auch eine Entrüstung aus Angst vor Überfremdung. Da wird Kratzer doch mehrdeutig. Chor und Orchester der Oper Lyon rasen dazu in abenteuerlicher Brillanz, dagegen kämpfen die Solisten hart an, so beeindruckend Nicola Alaimo (Tell), John Osborn (Arnold), Jane Archibald (Arnolds Geliebte Mathilde, eigentlich dem Habsburger Lager zugehörig) und Enkelejda Shkoza (Tells Frau Hedwige) aus sein mögen. Selbst die Liebe zwischen Arnold und Mathilde, obwohl musikalisch betörend ausgebreitet, fällt hinter der Macht der Masse zurück.

Kubricks Film schildert eine Horde irrer Anarchisten, die nie systemisch werden wollen. Hier agieren sie implizit konstituierend. Am Ende, nach dem Sieg, nach einer Schlacht mit den Instrumenten, setzt sich Jeremy die schwarze Melone Geslers auf. Die Barbarei trägt ihre Früchte weiter in die nächste Generation, Kultiviertheit wird Chimäre.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4630154
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.