Süddeutsche Zeitung

"The Witness-Machine Complex" im Kunstverein Nürnberg:Das Schweigen der Mitschrift

Lesezeit: 3 min

Der Künstler Lawrence Abu Hamdan zeigt, wie die Technologie, die bei den Nürnberger Prozessen zum Einsatz kam, die Sprache der Zeugen und Täter beeinflusst hat.

Von Gürsoy Doğtaş

Als bei den Nürnberger Prozessen 1945/6 die Verbrechen der Nationalsozialisten aufgearbeitet werden sollten, wurde das Dolmetschen zu einem zentralen Medium dieser Aufarbeitung. Die verbliebenen Spitzen der NS-Diktatur mussten sich vor einem Internationalen Militärgerichtshof für ihre Taten verantworten. Für das Tribunal der vier Siegermächte mussten die Aussagen sowohl der Täter als auch der Zeugen in die vier offiziellen Sprachen des Prozesses - Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch - gedolmetscht werden.

Die bis dahin etablierte Form des Konsekutivdolmetschens hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen und Verzögerungen den Tätern einen Vorteil beim "Zurechtlegen" ihrer Aussagen verschaffen können. Um die Kommunikation zu beschleunigen, wurde in Nürnberg daher zum ersten Mal die jüngst entwickelte Simultanübersetzung, also die Übersetzung beinahe in Echtzeit, eingesetzt. Hierfür stellte die International Business Machines Corporation, heute allgemein bekannt als IBM, die technische Ausstattung zur Verfügung.

Die Lichtsignale der Dolmetscher steuerten den Redefluss der Sprecher

Die Einzelausstellung "The Witness-Machine Complex" des Turner-Preisträgers Lawrence Abu Hamdan im Nürnberger Kunstverein setzt genau da an. Der Künstler greift die gelben und roten Glühbirnen an den historischen Mikrofonpulten auf und re-animiert sie. Über die Blinklichter kommunizierten die Simultandolmetscher, Männer und Frauen, während der laufenden Gerichtsverhandlung mit den Angeklagten, den Zeugen, den Sachverständigen und den Anklägern. Genauer gesagt steuerten die Lichtsignale deren Redefluss: Das einmalige kurze Aufleuchten der gelben Glühbirne forderte sie auf, ihre Sprechgeschwindigkeit zu verlangsamen, ein dreimaliges Blinken bat sie, lauter zu sprechen, und war etwas vom Gesagten nicht verstanden worden, markierte das rote Lichtsignal die Notwendigkeit, die jeweils letzte Aussage zu wiederholen.

In einem abgedunkelten Raum positioniert Abu Hamdan sieben Stahlständer, die je einen grauen Quader tragen. In diese sind LED-Lampen eingeschraubt, die die gelben und roten Glühbirnen imitieren. Aus diesen Quadern - es handelt sich zugleich um Lautsprecherboxen - sind Aufzeichnungen der Aussagen von Zeugen und Zeuginnen wie Jakob Grigorjewitsch Grigorjew und Marie-Claude Vaillant-Couturier zu hören, deren Transkripte und Übersetzungen an die Wand projiziert werden. Aber auch Nazi-Größen wie der Reichswirtschaftsminister und Reichsbankpräsident Walther Funk kommen per Tondokument zu Wort. Funk hatte Juden und Jüdinnen beraubt, indem er nach deren Ermordung im KZ ihren Besitz an sich riss.

Anhand des Filmmaterials zum Nürnberger Prozess rekonstruiert der Künstler, wie die Lichtsignale das Sprechen der Prozessteilnehmer steuerten oder unterbrachen, bisweilen auch die Zeugen und Zeuginnen aus der Bahn ihrer Erzählung schleuderten. Jene Verschiebungen der Tonlage und des Redetempos, die kleinsten Verunsicherungen von Stimme und Stimmung, die in den Verschriftlichungen des Verfahrens undokumentiert geblieben sind, werden so wieder erfahrbar.

Unterbrochen vom blinkenden Licht, sieht sich die französische Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebende Vaillant-Couturier gezwungen, ihre Redegeschwindigkeit zu drosseln. In einer Art langsamem Stakkato spricht sie über Gräueltaten der Nazis. Grigorjew, dessen Dorf Kusnezovo von deutschen Soldaten im Oktober 1943 ausgelöscht wurde und aus dem er selbst nur mit größter Not fliehen konnte, verstummt beim Aufblitzen des Lichtes. Selbst als das Gericht ihn auffordert, seine Ausführungen fortzusetzen, kann er kaum sein eigenes Schweigen überwinden.

An dieser Wiederbelebung der Technik von 1945 wird deutlich, dass die Mitschriften des Verfahrens mit ihrer lexikalischen, syntaktischen und semantischen Akkuratesse ein kohärentes Sprechen nur suggerieren - und dabei nicht allein den Raum für das Unsagbare, das Unaussprechliche verschwinden lassen, sondern auch die Spuren der Übersetzungstechnologie selbst verwischen.

Die Technologie von IBM wird erkennbar als eine unsichtbare Macht im Verhandlungssaal dieses historischen Verfahrens. Neutral war IBM ohnehin nicht. Erst 2001 hat der investigative Journalist Edwin Black nachgewiesen, dass die deutsche IBM-Tochtergesellschaft Dehomag den Nazis eine Lochkarten-Technologie lieferte, die auch für die Verübung des Holocaust genutzt wurde. Wenn die Nazis im Zeugenstand die Lichtsignale der Übersetzungsapparatur ignorierten, schienen sie auch als Angeklagte immer noch ihre Vorherrschaft über die Technik für sich zu beanspruchen - während dieselbe Technik die Opfer ein weiteres Mal zu entmenschlichen schien.

Lawrence Abu Hamdans recherche-intensive Arbeiten, die die Beweiskraft eines forensischen Plädoyers haben, nehmen ihren Anfang bei akustischen Untersuchungen; der Künstler versteht sich selbst auch als "Klangdetektiv" ( private ear). Mit den Anhörungen und Verhören der Nürnberger Prozesse versetzt er sich und damit auch das Publikum in die Rolle eines ermittelnden und zugleich empathischen Zuhörers. Auch mehr als 75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen wird so der widersprüchliche Komplex von Technik, Macht und Gewalt in seiner ganzen, auf bedrückende Weise aktuellen Brisanz erfahrbar.

Lawrence Abu Hamdan, The Witness-Machine Complex im Kunstverein Nürnberg. Bis 19. Dezember.

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