Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Nichts Neues":Nehmt das, Dämonen

Lesezeit: 1 min

Eine Vorlesung von Rainald Goetz.

Von Johanna Adorján

"Hallo Berlin", ruft Rainald Goetz gut gelaunt und reißt einen Arm hoch: "Hier spricht der 10. Mai 2012". So begrüßt er das Publikum seiner Antrittsvorlesung der Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik, die er in jenem Sommer innehat. Im voll besetzten Hörsaal der Freien Universität sind auch die Hinterköpfe einiger Feuilletonisten zu erkennen. Auch sie machen Handyfotos von Goetz, den sie als ihren genauesten Leser verehren, vielleicht gerade weil er in seiner Ablehnung oder Zustimmung so unberechenbar ist.

Die folgenden 45 Minuten sind eine Hymne aufs Lesen, bei der man zuhörend immer wacher wird, anstatt wie sonst oft bei Vorträgen höflich wegzudämmern. Goetz ist so konzentriert, dass man es auch wird. Durchs Lesen könne man Sprachgefühl und Menschenkenntnis gewinnen, sagt er. Und macht als "große Frohbotschaft" der Literatur Mitgefühl aus.

Der Vortrag ist in zwölf Kapitel untergliedert. Das siebte beginnt so: "Der Dämon, der in mir ist und mich regiert, ist grausam." Es würde sich als Monolog für Schauspielaufnahmeprüfungen eignen, weil hier von Abgründen die Rede ist, klar und beleuchtet wie mit Blitz. Es geht um die Not, der ein hochempfindsamer Mensch ausgesetzt ist, wenn er das Haus verlässt. Wenn er unter Leute geht, das auch möchte, dabei aber vieles als unerträglich erfährt, als Zumutung, Pein. Der Dämon, sagt Goetz, sei eine Lupe, die alles um ihn herum vergrößert, normale Verhaltensweisen von Leuten zum Horror verzerrt. Und innerlich tobt er auch. "Die Gedanken und Gefühle in mir, die Irritationen: riesig, niederdrückend, gewaltig." Der Dämon will ihn vom Schreiben abhalten und zum Alleinsein zwingen. "Nur lesen, im Bett liegen, schlafen. Lesen und ehrlich gesagt und genau genommen und am allerliebsten vielleicht ja doch auch schon ein bisschen tot sein. Oder auch ganz tot und für immer? Ruhe. Ruhe ist die Sehnsucht, totale Panik in Permanenz die Realität."

Man muss sehen und hören, wie Rainald Goetz von seinem Dämon erzählt, um zu begreifen, was Sprache vermag. Und darüber zu staunen, wie viel Schönheit und Poesie aus Notwehr entsteht.

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