Heinz Strunk: "Der goldene Handschuh":Im schwarzen Loch menschlichen Elends
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Selten wurde die Phrase vom "Scheitern als Chance" besser entlarvt als in Heinz Strunks neuem Roman: "Der goldene Handschuh" erzählt vom Hamburger Frauenmörder Fritz Honka.
Buchkritik von Tex Rubinowitz
"Zum Goldenen Handschuh", das ist eine schimmlige Kaschemme in Hamburgs deprimierendem Stadtteil St. Pauli, vor mehr als fünfzig Jahren von einem Berufsboxer namens Herbert Nürnberg gegründet, daher der Name; sie hat an 365 Tagen 24 Stunden geöffnet, es gibt keinen, der das Licht ausmacht, immer gibt es noch einen Allerletzten.
Heinz Strunk ist ein Autor, der vor mehr als fünfzig Jahren auf der falschen Seite der Elbe geboren wurde, im deprimierenden Hamburg-Harburg, im Schatten einer Autoreifenfabrik. Er spielte zwölf Jahre Querflöte in einer Tanzmusikcombo auf unfidelen Feuerwehrfesten, darüber hat er ein Buch geschrieben, "Fleisch ist mein Gemüse", das sich 500 000 Mal verkauft hat.
Nach weiteren biografisch gefärbten Büchern über seine trostlose Kindheit, seine verheerende Akne, den Tod seiner Mutter und seine Versuche als weitgehend ignorierter Komiker mit Themen wie endlose Masturbationen (Melken), Christoph Grissemann in Afrika und Schorf als Chance für eine straffere Haut, schrieb er nun ein Buch über jene Boxerkneipe, und speziell einen Stammgast: Fritz Honka.
"Die Frau, die reinkommt", heißt es bei Strunk, "zittert vor Kälte und ist ziemlich klein. Wie schmutziger Schaum ergießt sich farbloses, dünnes Haar über die Rückseite ihres eierförmigen Schädels. Ihr Blick ist leer, das Gesicht einer Kriegsgefangenen. Sie könnte fünfzig sein oder siebzig. Unter dem Mantel trägt sie nur einen Kittel, einen schrecklichen, blauen Putzfrauenkittel. Je länger man sie anschaut, desto furchtbarer sieht sie aus, gerade wenn man Alkohol getrunken hat, so rum geht's nämlich auch. Man kann sich schon nicht mehr vorstellen, wie die früher mal ausgesehen hat als Frau."
Honka war Mitte der Siebziger so eine Art Gespenst des Grauens, das personifizierte Böse
Fritz Honka ist ein schmächtiger, gedemütigter Mann mit riesigen Händen, dramatisch schielend, das rechte Auge wie ausgelaufen, die Nase nach links gebogen. Er arbeitete als Nachtwächter, brachte zwischen 1970 und 1975 vier ältere, zahnlose Gelegenheitsprostituierte um, die er im Handschuh kennenlernte. Er nahm sie zu sich mit nach Hause, in seine überheizte Dachwohnung, man trank bis zur Besinnungslosigkeit - zwei Nichtschwimmer, die sich aneinanderklammern, um ihre unartikulierbare Verwirrung zu teilen. Bis sich Kräfte zusammenballen, die außerhalb ihres kontrollierten Bewusstseins liegen, eine zunächst nach innen gerichtete Gewalt, eine ständig kratzende Bedrohung, die irgendwann aufbrechen muss und in unregelmäßigen Zeitabständen auch aufbrach, und in der Katastrophe kulminierte.
Am Ende wachte er neben den Leichen auf, ohne sich an den genauen Tathergang erinnern zu können. Überfordert und zu schwach, um sie fortzuschaffen, zersägte er die Frauen, stopfte die Leichenteile hinter eine Wand, wo sie vor sich hingammelten. Dem beißenden Geruch versuchte er mit Klosteinen und Wunderbäumen beizukommen.
Honka denkt: "Das ist alles, was von uns eines Tages übrigbleibt, sinnlose, blutende Löcher und Flecken." Niemand vermisste diese seelenlosen Frauen, auch weil sie, als sie noch lebten, ihr untotes Leben ohne viel Hoffnung in Wohnsitzlosigkeit abwickelten. Eine dieser schwachen Frauen macht sich in seiner Wohnung kleiner als sie ist, "sie weiß, dass sie keinen schönen Anblick abgibt, je weniger von ihr da ist, desto weniger gibt es, um sich darüber zu ärgern. Draußen ist es kalt, und sie möchte noch ein wenig bleiben."
Fritz Honka war Mitte der Siebzigerjahre so eine Art Gespenst des Grauens, von der misanthropischen Bild-Zeitung in kalkuliert populistischer Ekelfaszination aufgebaut als Synonym für das Böse per se. Jedem, der in dieser Zeit aufwuchs, ist der Name Honka nicht bloß ein Name, sondern mehr noch ein angstschürender Begriff.
Max Müller von der Band Mutter nannte seine erste, primitiv rumpelnde Band Honkas, so als sei das eine Art Vergangenheitsbewältigung mit Mitteln des Gegenschreckens. Mit belegter Stimme besang er alte Männer hinter vergilbten Gardinen, in dumpfen Zimmern, die nach Schweiß, Magensäure und Leid riechen, Aussätzige, über die die Kinder auf der Straße lachen.
Porträt eines deprimierenden Absturzmilieus
Der Grat zwischen Mitleid und Ekel ist klein, bei Müller wie bei Strunk. Es gibt keine Fotos aus jener Zeit, aus diesem untersten aller nur denkbaren Absturzmilieus, aber der schwedische Fotograf Anders Petersen hat etwa zur gleichen Zeit seine viel beachtete Reportage über die unweit vom Handschuh gelegene, relativ milieugleiche Stehbierhalle Café Lehmitz gemacht, kürzlich wieder aufgelegt als Buch bei Schirmer/Mosel.
Es zeigt Verrutschte des Daseins, die den Ausstieg verpasst haben, und andere Resignierte, die komatös vielleicht noch von ihrer Rettung träumen können, zumindest bis die Wirkung des Alkohols nachlässt und jemand einen zum nächsten Schnaps einlädt, Motto: Bitte nicht nach Hause schicken. Wenn man Strunks Bericht, Müllers Musik und Petersens Bilder übereinanderlegen würde, bekäme man vermutlich Düsternis in 3-D.
Nun hat Heinz Strunk nicht nur eine klassische Milieustudie der Verzweiflung abgeliefert, sondern er versucht, die Ohnmacht zu spiegeln, versucht zu zeigen, dass nicht nur, wer von unten kommt, in den meisten Fällen unten bleiben und unten untergehen muss, sondern, dass vom Handschuh auch eine magische Bedrohung "nach oben" ausgeht, zu wissen, dass es so etwas gibt, dass man nur einmal in die Hölle blicken muss, sozusagen als nützliche Hölle, um sich seiner eigenen vermeintlichen Unverwundbarkeit und geschützten Herkunft zu versichern.
Schlaffe Marionetten in der Hand eines müden Gottes
Deshalb hat Strunk in seinem Buch einen zweiten Erzählstrang eingebaut, mit Personal aus der scheinbar sicheren Welt des alten Geldes, den Reederdynastien der gepflegten Vororte Hamburgs, einen Strang, der sich unaufhaltsam dem anderen Strang nähert, dem der schlaffen Marionetten in der Hand eines müden Gottes an diesem schauerlichen Ort.
Aber diese Parallelen werden sich nie kreuzen, weil sie sich dann beide in dem Moment, wo es passieren könnte, wieder voneinander entfernen, in ihre jeweiligen sprachlosen Unendlichkeiten, manchmal wird eben doch nicht wahr, was wahr werden könnte. "Langeweile ist verdünnter Schmerz (. . .) sie ist gewissermaßen ein der Depression vorgeschalteter Zustand (. . .) keine echte Verzweiflung, nur ein seltsames Vakuum", wie einer von der angeblich sonnigen Seite sinniert.
Es gibt aber im Buch auch so etwas wie blasse Graduierungen der Hoffnung in vollkommener Glücksabwesenheit, etwa wenn Honka ausbricht, um eine Hafenrundfahrt zu machen. Er lässt sich beeindrucken von den aggressiv "witzigen" Sprüchen des Schiffsführers, er versucht, sich alles zu merken, um in der Gesellschaft wenigstens mit etwas Eloquenz bestehen zu können, merkt indes nicht, dass diese Witze auf Kosten der Zuhörer gemacht werden.
Auch hier wieder nur hierarchische Verachtung, an deren unterem Saum die verstummten Ahnungslosen zurückbleiben, fassungslos und in Katalepsie verharren, all die "veridioteten Witzwesen, Fickfehler, mit Gesichtern aus zerschmolzenen Horrormasken".
Protokolle einer sprachlosen Gesellschaft
Nun könnte man Strunk Perfidität vorwerfen, er stelle sein Personal aus, führe es ohne Gnade vor, weil es sich nicht wehren kann und auch noch nie konnte, aber es sind eher Protokolle einer sprachlosen Gesellschaft, deren Münder nur noch große schwarze Löcher sind. Keiner hilft keinem, wenn man sich selbst ganz fremd und immer fremder geworden ist, mit vor Schmerzen verkrümmten Seelen.
Selten war die hohle Phrase vom "Scheitern als Chance" mehr entlarvt als das, was sie ist: hohntriefender Dünkel, zumindest hier an Orten wie dem Goldenen Handschuh. Das Buch analysiert nichts, dazu ist es genauso ohnmächtig wie seine Opfer, distanziert sich aber auch nicht von ihnen, und es leistet sich ihnen gegenüber auch nur so viel Empathie, wie nötig ist, um zu erkennen: Brauchst gar nicht wegzuschauen, das könntest nämlich genauso gut auch du sein.
Im Handschuh gibt es eine trostspendende Musicbox, einige Musiktitel daraus werden im Buch "angespielt", Gittes "Ich hab die Liebe verspielt in Monte Carlo" oder "Ich wünsch mir 'ne kleine Miezekatze" eines Zeichentrickhunds namens Wum. Monte Carlo und Miezekatze als allerletzte Ausfahrten ins Glück. Doch man wird nie ankommen.