Süddeutsche Zeitung

Michael Maars Notizsammlung "Fliegenpapier":"Eh" ist ein Abgrund

Lesezeit: 2 min

Beobachtungen, Miniatur-Essays, Notizen, hinreißend hingetupft von Michael Maar.

Von Hilmar Klute

Eigentlich ist die literarische Form der Aufzeichnung, der lockeren Sammlung von Notizen und Einfällen, im schönsten Sinne zeitgemäß: schnell aufschreiben und festhalten, denn es stürzt einfach zu viel auf uns ein beim Lesen und Denken. Das gilt besonders dann, wenn es unablässig geschieht wie bei Michael Maar, der so komfortabel in der Sprache und in der Literatur lebt wie andere, weniger privilegierte, in ihren öden Townhäusern. Aber auch ein Enthusiast wie Maar, der im vergangenen Jahr mit seiner leidenschaftlichen Stil- und Weltliteraturkunde "Die Schlange im Wolfspelz" den essayistischen Triumph des schreibenden Lesers feierte, kann nicht aus jeder Trouvaille ein komplettes Buch machen. Bei Rowohlt erscheint deshalb jetzt ein schmaler Band mit Eindrücken und Lesefrüchten, so nannte man das in den Zeiten, da man Lesen wohl noch mit Kulinarik verband. "Fliegenpapier" heißt die Sammlung, natürlich mit Blick auf Robert Musils grausam scharf gestellte Schilderung des Fliegensterbens auf dem Klebestreifen "Tangle Foot", einer Allegorie des gnadenlosen Hinsehens.

Die formalen Vorlagen, Maar erwähnt sie im Vorwort, sind die Notizen von Henning Ritter, Botho Strauß und Peter Sloterdijk. Aber man könnte auch Alfred Polgars pointiert angerissene Hintersinnigkeiten im Kopf haben, wenn man liest, was Michael Maar an Sprach-, Denk- und Lesebeobachtungen für bemerkenswert hält. Die kurze, aber etymologisch wie soziallinguistisch erschöpfende Auslassung zum Wörtchen "Eh" gehört zu den Juwelen in diesem Bändchen, welches, der Form der Notizensammlung gemäß, Edelsteine und Kiesel gleichranging nebeneinanderlegt. Das "Chamäleonwort Eh" bedeutet im Österreichischen so viel mehr als im Hochdeutschen, den Begriff (eher ein Laut) in seinem Gesamtspektrum abzubilden, bedeutet, die österreichische Sprache auf ihre Abgründe hin auszuloten. Wer "eh" sagt, meint nicht einfach "ohnehin", sondern "dichtet die Welt ab gegen unerwünschte Neuigkeiten".

Am stärksten ist Michael Maar naturgemäß dort, wo seine Taschenlampe die Gestalten und Gestalter der Weltliteratur in ihren genialen Schwächen ausleuchtet, den chronisch überinformierenden Tolstoi, aber auch den allerseits geliebten, aber bei genauem Hinsehen mit stereotypen Wendungen und den immer gleichen "Bauklötzchen" operierenden Tschechow.

Zu den hübschen Einfällen zählt auch die Fantasie, Prousts Swann hätte seiner Odette nicht mit der Rohrpost nachstellen und ihre verzögerten Antworten aushalten müssen, sondern wäre den schwarzen und blauen Häkchen von Whatsapp verfallen, flankiert von dem erbärmlichen Erlösungsgefühl, wenn über Odettes Adressfeld das kursive schreibt erscheint. Ob die Recherche dadurch einen anderen Dreh bekommen hätte? Gleichgültig, denn das Schöne an Michael Maars Prosaminiaturen ist, dass sie das Bestehende kurz erzittern lassen, damit sich niemand sicher sein darf. Am Ende bleibt kein Zweifel, dass das Erfundene immer dem Wirklichen vorzuziehen ist.

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