Süddeutsche Zeitung

Unesco-Weltkulturerbe:Das Land blühe

Lesezeit: 4 min

Die Unesco erweitert das Weltkulturerbe, nach einigem Streit auch um die Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt.

Von Till Briegleb

Was waren das noch für andere Zeiten, als man Künstler rief, die Wirtschaft anzukurbeln und die prominenteste Stelle einer Stadt mit Gebäuden zu gestalten, die in jedem verschwenderischen Detail vom ästhetischen Geist der Zeit sprechen! Das kunsthandwerkliche Konjunkturprogramm mit Repräsentationscharakter, das Großherzog Ernst Ludwig 1899 in Darmstadt mit dem Satz begründete: "Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst", wurde zwar leider von einem Weltkrieg schlagartig beendet. Aber in den 15 Jahren, die der engagierte Fürst auf der Mathildenhöhe seine Künstlerkolonie stiftete und konsequent ausbauen ließ, entstand dort ein Jugendstil-Ensemble, das seit Samstag zum Weltkulturerbe zählt - wenn auch erst nach einigem Widerstand.

Ausgerechnet der Internationale Rat für Denkmalpflege Icomos, der das verantwortliche Komitee der Unesco für die Aufnahme in die prestigeträchtige Liste fachlich berät, hätte das Votum gerne verhindert, zumindest verschoben - und damit eine weitere kontroverse Entscheidung dieser Doppelsitzung für die Jahre 2020 und 2021 herbeigeführt. Denn auf der Konferenz in der chinesischen Hafenstadt Fuzhou, die noch bis 31. Juli dauert, mehren sich die strittigen Entscheidungen. Die durch australische Lobbyarbeit verhinderte Kennzeichnung des schwer geschädigten Great Barrier Reefs als "gefährdetes" Naturerbe zählt ebenso zu den zweifelhaften Beschlüssen wie die Aberkennung des Welterbe-Status für den Hafen von Liverpool, weil sich die Stadt rund um die alten Seehandelspaläste an der Merseyside mit Neubauten weiterentwickelt.

Mit dem Titel steigt das Touristenaufkommen

In welcher Ursprünglichkeit herausragende Orte der Menschheitsgeschichte bewahrt werden sollen, war dann auch der Streitpunkt bei der Mathildenhöhe. Denn durch ein geplantes Besucherzentrum auf dem Hügel sowie das damit verbundene erhöhte Verkehrsaufkommen, sahen die Icomos-Fachleute die Integrität des Ensembles gefährdet - wobei die Paradoxie dieser Begründung ist, dass die neuen Besuchermassen, die man in Darmstadt erwartet, ausdrücklich auf den erhofften Titel als Weltkulturerbe zurückgeführt werden. Die Unesco-Auszeichnung führt stets zu stark steigender touristischer Aufmerksamkeit. Und diese Neugierigen brauchen eine zentrale Anlaufstelle, die natürlich direkt bei den Hauptattraktionen liegen muss.

Die Mitglieder des Entscheidungskomitees wandten sich dann auch einhellig gegen die aufgebrachten Einwände, ein Flachbau unterhalb der großen Ausstellungshalle von Joseph Maria Olbrich würde den Gesamteindruck dramatisch beeinträchtigen. Zumal die Künstlerkolonie selbst ein Prozess ständiger Erweiterung gewesen ist, der nach den Kriegsverlusten des Zweiten Weltkriegs durch Ergänzungsbauten wie der Hochschule für Design fortgesetzt wurde. Funktionale und ästhetische Gegensätze sind gerade das Markenzeichen dieser Stilinsel, die von Beginn an mit dem Hintergedanken von Ernst Ludwig gegründet wurde, mit der Anlockung einiger der wichtigsten Gestalter seiner Zeit die hessischen Manufakturen im europäischen Stil wettbewerbsfähig zu machen.

Dieses frühe Beispiel des "Guggenheim-Effekts" von der wirtschaftlichen Stimulanz durch spektakuläre Kulturprojekte führte zu dem vielfältigen Erscheinungsbild. Im ehemaligen Fürstengarten mit seiner erhaltenen Platanenallee entstand zunächst ein unterirdisches Wasserreservoir sowie die ornamental überladene russische Kapelle mit goldenen Türmchen. Um diese gegensätzlichen Bauwerke herum entwickelte sich nach einem Masterplan dann die neue Kolonie von den mit großen Versprechungen hergelockten Architekten. Neben den Jugendstil-Villen von Olbrich, Peter Behrens und anderen findet sich hier aber bereits die kommende Moderne angedeutet. So ist die große Ausstellungshalle, die nach Plänen von Olbrich 1908 errichtet wurde, mit ihren kantigen Betonarkaden und kubischen Formen bereits eine Prophezeiung des Neuen Bauens, wie es sich mit Gründung des Bauhaus in Weimar elf Jahre später konstituierte.

Wäre diesem beeindruckenden Jugendstil-Ensemble mit seinen Ausstellungsbauten, Künstlervillen, Denkmälern, Garten-, Wasser- und Platzanlagen rund um den berühmten "Hochzeitsturm" von Joseph Maria Olbrich der Welterbestatus wegen einer kleinen Ergänzung kleinlich versagt worden, hätte das die Seriosität dieses Unesco-Gremiums ernsthaft infrage gestellt. Wobei aus anderer Richtung den vielen Anträgen aus Europa gravierenderer Einspruch droht - allein aus Deutschland sind es diesmal fünf Vorschläge mit neun Orten, die teilweise, wie die beiden Limes-Nominierungen an der Donau und am Rhein, über Ländergrenzen führen. In den Debatten dieser 44. Unesco-Sitzung zum Weltkulturerbe seit 1972 wurde aber von vielen Nationen erneut gefordert, endlich das massive Ungleichgewicht zwischen den Kontinenten bei der Vergabe zu ändern. Von den bisherigen 1121 Welterbestätten befindet sich rund ein Viertel allein in sieben europäischen Ländern, darunter Deutschland mit bisher 46 auf Platz vier.

Deswegen schauen vermutlich einige europäische Länder etwas bang nach Fuzhou: etwa Spanien, das das Areal von Prado und Retiro eingereicht hat, Polen, das Danzig wegen der Geburtsstunde der Solidarność aufgenommen wissen will, oder Frankreich mit seinem Vorschlag für Nizza als "Hauptstadt des Riviera-Tourismus". In Deutschland droht nach den beiden Anerkennungen für die Mathildenhöhe und die drei Kurbäder Baden-Baden, Bad Ems und Bad Kissingen nun dem Vorschlag der "SchUM"-Städte Mainz, Worms und Speyer die Zurückstellung aus Proporzgründen. SchUM, das ist eine Wortschöpfung aus den hebräischen Namen der drei Städte, in denen sich vor rund 1000 Jahren das aschkenasische Judentum in Deutschland zu entwickeln begann: Schin für Schpira (Speyer), Waw (U) für Warmaisa (Worms) und Mem für Magenza (Mainz).

Auch deutsch-jüdische Stätten am Rhein sind nominiert

Obwohl in dem Jubiläumsjahr, wo in vielen Städten 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland gefeiert wird, die internationale Würdigung der erhaltenen Friedhöfe und Bauzeugnisse am Rhein sehr gelegen käme, ist es keineswegs gewiss, dass das Komitee am Dienstag diesem Ansinnen folgen wird. Doch selbst wenn dem Antrag nicht zugestimmt wird, ist die neue Aufmerksamkeit, die diese Bewerbung für die deutsch-jüdische Kulturgeschichte erbringt, vielleicht ein Anstoß, sich mit den frühen Reformbestrebungen zu beschäftigen, die vom "Jerusalem am Rhein" ausgingen. Religiöse und gesetzliche Neuerungen, etwa ein Scheidungsrecht, das Frauen nicht benachteiligt, wurden hier entwickelt, sowie eine tiefe friedliche Gelehrsamkeit gepflegt - und das trotz wiederkehrender Pogrome und hasserfüllter christlicher Kampagnen gegen die vermeintlichen "Brunnenvergifter" und "Pestbringer".

Vielleicht wäre es zumindest für die Stille der Friedhöfe, darunter der älteste jüdische Friedhof nördlich der Alpen in Mainz, sogar von Vorteil, wenn der Touristen vermehrende Effekt der Auszeichnung ausbleibt? Busladungen voll Kurzzeitgästen, die leere Pappbecher auf die Grabsteine stellen, brauchen diese historischen Stätten so wenig wie die Schändungen durch rechte Idioten, wie sie 2020 zuletzt auf dem "Heiligen Sand" in Worms vorkamen. Aber vielleicht folgen im Fall der internationalen Würdigung durch den Weltkulturerbe-Titel auch ganz andere Reaktionen, die der Weisheit des aschkenasischen Judentums in seiner Neugier für die Welt angemessen sind.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde der Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, fälschlicherweise als Kurfürst bezeichnet.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5363063
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.