Süddeutsche Zeitung

Mariana Enriquez: "Unser Teil der Nacht":Karussell der Gräuel

Lesezeit: 5 min

Mariana Enriquez verwandelt die argentinische Vergangenheit in einen Genreroman: Ist Horror der richtige Rahmen für Zeitgeschichte?

Von Martin Ebel

Heute scheint Lateinamerika weiter weg zu sein, aber es gab eine Zeit, in der sich europäische Leser mit Begeisterung auf die Romane von Julio Cortázar, Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa stürzten (oder, etwas schlichter, auf die Bücher von Isabel Allende). Die Kombination aus blutiger Zeitgeschichte und "magischer Wirklichkeit" wirkte damals befreiend auf ein Publikum, das ermüdet war von einer steril gewordenen Avantgarde, die sich "experimentell" um sich selbst und die "Unmöglichkeit zu erzählen" drehte.

Der "Boom" der lateinamerikanischen Literatur ist eine Weile her, und ohne den Chilenen Roberto Bolaño hätte man den Kontinent womöglich aus den Augen verloren. Natürlich wird immer mal wieder eine "neue Generation" ausgerufen, werden Nachfolger präsentiert - was man erst mal mit Skepsis entgegennimmt. Mariana Enriquez beispielsweise, Argentinierin des Jahrgangs 1973, ausgebildete Journalistin (wie viele ihrer großen Vorgänger auch), stand 2021 mit der englischen Übersetzung ihres Erzählbandes "Los peligros de fumar en la cama" auf der Shortlist des internationalen Booker-Preises. Das Original erschien schon 2009.

Enriquez' Roman "Nuestra parte de la noche" von 2019 fand schneller zu einer internationalen Leserschaft: "Unser Teil der Nacht", so die deutsche Übersetzung (der Titel zitiert eine Zeile von Emily Dickinson), ist ein "Opus magnum" in mehrfacher Hinsicht, und wer sich auf einen Rausch à la "Hundert Jahre Einsamkeit" freut, wird befriedigt und enttäuscht werden zugleich. Lateinamerikanische Literatur 2.0, wenn man so will, ist zwar politisch und magisch, aber, jedenfalls im Fall von Mariana Enriquez, geprägt von zwei Phänomenen, die den Buchmarkt gründlich umgewälzt haben: dem Boom der Genreliteratur und dem der "All Age"-Lektüren von "Harry Potter" bis "Herr der Ringe".

Bis heute tauchen immer wieder Massengräber auf und rücken jene Jahre neu ins Bewusstsein

Das Genre ist hier der Horror (mit seinem Subgenre "Folk Horror"). Wie Mariana Enriquez die englische Gothic Novel nach Argentinien verpflanzt und in die Gewaltgeschichte ihres Landes einpasst, ist das Wagnis ihres Romans. In England nimmt die Handlung ihren Ursprung: Dort bildet sich im 19. Jahrhundert ein "Orden", eine Sekte, die auf der Suche nach dem ewigen Leben esoterische Rituale vollzieht, was das jeweilige Medium das Leben kostet. Die Autorin hat sich dazu von einer realen Geheimgesellschaft, dem "Golden Dawn", anregen lassen.

Bei Mariana Enriquez wandern die beiden Sektengründer nach Argentinien aus, werden Plantagenbesitzer und reich - Protagonisten der blutigen Ausbeutung des Landes und seiner Bewohner. Von ihrem Stammsitz im Norden aus üben die Familien Bradford-Reyes und Mathers Gewalt über die Umgebung aus, in enger Verbindung mit Politikern und Militär. Einen Höhepunkt erreicht diese Allianz in den Jahren der Diktatur, von 1976 bis 1983: Deren Verbrechen "waren äußerst nützlich für den Orden, sie sorgten für Körper, für Alibis und für Ströme von Schmerz und Angst". Realiter sind dem Staatsterrorismus der Generäle und ihrer Todesschwadronen in jenen Jahren Zigtausende Menschen zum Opfer gefallen, darunter bis zu 30 000 "Desaparecidos", Menschen, die spurlos verschwanden. Bis heute tauchen immer wieder Massengräber auf und rücken jene Jahre neu ins Bewusstsein.

Eines der sechs Kapitel schildert die Entdeckung eines solchen Grabes im Jahr 1993. "Der Schacht von Zañartú" ist vorgeblich eine Reportage einer Olga Gallardo. Die Leichen stammen von einem Massaker an einer Widerstandsgruppe, aber nicht nur. Offenbar hat der Orden eigene Opfer unauffällig verschwinden lassen. Denn - davon weiß die Reporterin nichts, wohl aber wissen es längst die Leser - die Ordensführerin Mercedes Bradford hält in einem Tunnel unter ihrem Stammsitz Menschen, die sie auf ihre "Mediumstauglichkeit" testet und an denen sie ihren Sadismus auslebt. Geliefert bekommt sie dieses "Menschenfleisch" von der Diktatur. Was sie mit ihren Opfern anstellt, das wiederzugeben, sträubt sich die Tastatur des Rezensenten. Mariana Enriquez' Horror hat nichts Gemütliches; ihre Adaption des Gothic blendet über zu den Gräueln des "Schmutzigen Krieges" des Militärs gegen das eigene Volk. Die Grausamkeiten des fiktiven Ordens stehen im Roman symbolisch für die des militärisch-oligarchischen Komplexes, auf der Handlungsebene funktionieren sie symbiotisch.

Auch in Details schimmern reale Gräuel totalitärer Regime durch

In der Verbindung des Folk Horror mit Zeitgeschichte zeigt Mariana Enriquez beachtliche Raffinesse. Die Reporterin Olga Gollardo stößt bei ihren Recherchen auf eine Überlebende des Massakers, die ihre Tochter verloren hat. Diese soll in einem Spukhaus verschwunden sein. Olga scheitert auf immer absurdere Weise daran, dieses Haus zu finden und zu betreten, sie entgeht nur knapp dem Unfalltod, bricht die Reportage ab und verliert den Verstand. Adela, das verschwundene Mädchen mit dem fehlenden Arm, ist der Link zum Erzählkosmos um den menschenfressenden Orden und das zentrale Vater-Sohn-Paar Juan und Gaspar Peterson.

Denn "Unser Teil der Nacht" ist nicht nur die Auseinandersetzung mit Argentiniens Gewaltgeschichte, es ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte, außerdem ein Roadmovie, eine Szenerie des "Swinging London" der 1960er, die Erzählung einer wie von Stephen King inspirierten Teenager-Freundschaft, ein Erziehungsroman und eine "Quest": die Suche des jungen Gaspar nach seiner Bestimmung.

Die Autorin arbeitet mit Perspektivenwechseln und Zeitsprüngen, ein solcherart konzipiertes Werk kann schlechterdings nicht perfekt funktionieren, es gibt Längen und Unwuchten, aber der Gesamteindruck bleibt überwältigend - nicht zuletzt durch die sinnliche Prosa, die auch vor Schmerzpunkten nicht zurückweicht. Die Übersetzerinnen haben das Funkeln dieses Textes im Deutschen erhalten. Nur manchmal huldigen sie dem Zeitgeist, wenn plötzlich von "Studierenden" die Rede ist - zum Glück machen sie aus Arbeitern keine "Arbeitenden".

Juan Peterson ist das wirkungsvollste Medium des Ordens. Er vermag die "Dunkelheit" zu beschwören, eine anonyme Macht, die Menschen verschlingt, aber auch Auskunft über die "Transposition des Bewusstseins" zu geben vermag - jene Form der Unsterblichkeit, auf die die Ordensoberen so scharf sind. Juan leidet unter seiner Gabe, auch weil er weiß, dass sie ihn zu einem frühen Tod verurteilt. Davor will er alles tun, um den kleinen Gaspar dem Orden zu entziehen, der darauf spekuliert, dass der Sohn die Gabe des Vaters geerbt hat.

Hat er auch. Bis der Junge entdeckt, was sich hinter seinen Visionen und Anfällen verbirgt, bis er das sonderbare Verhalten seines Vaters begreift, den er fürchtet, hasst und liebt, vergehen viele hundert Seiten. Mit seinen Freunden Pablo, Vicky und Adela (mit dem einen Arm) erlebt er eine vom Einbruch des Unheimlichen immer mehr beschwerte Jugend in Buenos Aires, bis das Quartett in das "Spukhaus" eindringt, das viel größer ist, als es aussieht, und in dem in Regalen Knochen, Zähne, Wimpern aufgereiht liegen. Auch in solchen Details schimmern reale Gräuel totalitärer Regime durch.

Das Haus "frisst" Adela, die Behörden versuchen vergeblich, die Erlebnisse der Kinder mit der Realität in Einklang zu bringen. Wie überhaupt alle Rationalisierungen scheitern - wenn etwa Gaspar seine Gabe als Migräne, Epilepsie, Depression oder Trauma-Flashback zu deuten versucht. Die Enttäuschung, die Witold Gombrowicz einst den Lesern seines Gothic-Versuchs "Die Besessenen" bereitet hat, in dem sich aller Schrecken vernünftig aufklärt, erspart uns Mariana Enriquez. Und schließlich jagt die Autorin die Spannungskurve noch einmal so hoch, dass auch hartgesottene Genre-Fans zufrieden sein dürften.

Inzwischen dreht sich heute das "ewige argentinische Karussell" weiter, bleiben die Reichen reich und einflussreich und die Armen machtlos, lösen sich auch lange nach dem Ende der Diktatur Wirtschaftskrisen, Abwertungen, Inflation und Staatsbankrott ab. Einmal flieht Gaspar mit Studentenfreunden vor der Polizei in die Universität und blockiert die Tür zu dem Raum, in dem sie sich verstecken, mit seiner Gabe. Mariana Enriquez hat die Gabe, Türen zu einer dunklen Welt zu öffnen, die den Schrecken der Realität spiegelt, steigert und transponiert. Aus Genre-Elementen macht sie Literatur, die Ansprüche stellt und erfüllt. Denn wenn Autoren heute weltweit gesellschaftliche Brüche mit Krimi-Plots einfangen - warum nicht im Medium des Horrors?

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