Süddeutsche Zeitung

Märchenbücher:Dornröschens Dornenhecke pikst

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Die werden wundersamerweise nie alt: Zwei Verlage haben klassische Märchen besonders schön neu aufgelegt.

Von Lilly Brosowsky

Ein Mädchen steht vor einem Berg aus Glas. Der ist unüberwindbar, es sei denn, man trägt Schuhe aus Eisen. Und die kann nur ein Schmied herstellen, für den das Mädchen sieben Jahre arbeiten muss, um sich die Schuhe zu verdienen. Warum sie unbedingt dort hinüberwill? Sie hat sich verliebt. In einen Stier, der auf der anderen Seite des Glasbergs lebt. So steht es in einer schottischen Erzählung, die im Sammelband "Keltische Märchen" beim Impian-Verlag erschienen ist. Darin sind Geschichten aus Irland, Schottland, der Bretagne und Wales zu lesen, übersetzt von Ulrich Magin. Kate Forresters Illustrationen untermalen seine Übersetzung mit kräftigen Farben, sattem Schwarz und keltischen Knotenmustern.

Ganz anders ist das Pendant "Nordische Märchen" illustriert, das ebenfalls bei Impian erschienen ist und von Magin übersetzt wurde. Ulla Thynell hat für diesen Band mit feinen Pinselstrichen mystische Szenerien illustriert, die aus der Mitte heraus zu leuchten scheinen: sanft strahlende Blumen und Polarlichter. Dieser Band versammelt Volksmärchen aus Schweden, Finnland, Norwegen, Island und Dänemark.

Darin tummeln sich fremde Figuren wie Selkies oder der Brownie von Fern Glen. Viele der Geschichten sind im deutschsprachigen Raum unbekannt, etwa das von der Entstehung Islands: Einst sollte eine schöne Königstochter einem Seeungeheuer geopfert werden. Doch der tapfere Bauernsohn Assipattle ließ sich vom Ungeheuer verschlucken und entzündete in ihm ein Feuer, an dem das böse Tier verbrannte - und zur Insel Island mit den vielen Vulkanen wurde.

Die Motive sind indes ähnlich, zum Beispiel der Bruch böser Zauber durch wahre Liebe. Auch dass es häufig Kinder sind, die wie Assipattle gegen Seeungeheuer, Riesen und böse Hexen, gegen mythische Mächte also, in einer David-gegen-Goliath-gleichen Konstellation antreten, ist bekannt. Der rebellische Charakter scheint im Märchen universell zu sein. Seinetwegen hielt der Philosoph Ernst Bloch die Märchenhelden und -heldinnen übrigens für gute Wegbegleiter der Kinder: Sie lassen sich nicht vom Schein der Dinge beeindrucken. Bloch spiegelte in "Das Prinzip Hoffnung" seine ontologische Theorie am Märchen wider: Am Anfang stehen Hunger und Not, wie bei Hänsel und Gretel, die daraufhin auf Irrwege geraten. Sie werden von der bösen Hexe, also den mythischen Mächten, eingewickelt und gefangen (sie übersetzte Bloch beispielsweise als den Nationalsozialismus in die Realität), können sich aber befreien und müssen das auch, um schließlich mit den Taschen voller Schätze nach Hause zu finden, das erst jetzt zu einem echten Heim geworden ist.

"Heimat, worin noch niemand war", nennt Bloch es und stellt dem Menschen eine erreichbare Utopie vor Augen. Erreichbar für alle, die so mutig sind wie Assipattle, Hänsel und Gretel und keine Mühen scheuen, wie das Mädchen vor dem Glasberg. Das hat sich nach sieben Jahren die eisernen Schuhe verdient und findet hinter dem Glasberg den Stier, der sich mittlerweile in einen Prinzen verwandelt hat. "Das Märchen wird zuletzt immer golden, genug Glück ist da", schrieb Bloch.

"Das Märchen wird zuletzt immer golden, genug Glück ist da."

Der Grimm'sche Märchenkanon, zu dem Hänsel und Gretel zählt, wurde nun besonders schön vom Studio Minalima neu gestaltet. Miraphora Mina und Eduardo Lima arbeiten seit 2001 zusammen und wurden für die fantasievoll gestalteten Requisiten in den "Harry Potter"-Filmen bekannt, wie die "Karte des Rumtreibers". Später illustrierte das Duo neue Ausgaben der "Harry Potter"-Bücher in seinem speziellen Stil: viel Gold, bunte Farben und Papierspielereien, wie sie jetzt auch in den von Minalima gestalteten Klassikern und Märchensammlungen zu finden sind.

Wundervolle Illustrationen schmücken die Seiten des Sammelbandes. Schneewittchen ist im Scherenschnitt zu sehen, an Dornröschens beweglicher Dornenhecke kann man sich den Finger piksen und im aufklappbaren Lebkuchenhaus die böse Hexe suchen. Durch diese liebevolle Aufbereitung lassen sich die Märchen noch einmal ganz neu als der fantastische Rückzugsort erleben, der sie sind.

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