Süddeutsche Zeitung

Literaturpreise für Frauen:Es ist höchste Zeit

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Die wichtigsten Literatur-Auszeichnungen gingen dieses Jahr ausschließlich an Frauen. Die Preissaison 2020 zeigt, dass es etwas nachzuholen gibt - denn jede einzelne Würdigung ist überfällig.

Kommentar von Felix Stephan

Wenn sich Institutionen und Firmen aus Sorge um mangelnde Diversität zuletzt auf die Suche nach "starken Frauen" gemacht haben, die "neue Perspektiven" in den Diskurs einzubringen in der Lage sein könnten, schauten sie aus einem vagen Verdacht heraus in der Regel zuerst im Internet nach. Jetzt hat sich gerade herausgestellt, dass diese Frauen die ganze Zeit dort zu finden waren, wo viele als Allerletztes geschaut hätten: in den öffentlichen Bibliotheken.

Im deutschen Literaturbetrieb ist soeben die heiße Phase der Preissaison zu Ende gegangen. Das heißt, die Akademien haben getagt, einige der wichtigsten und am höchsten dotierten Preise dieser Republik wurden vergeben, Gesamtwerke wurden gewürdigt, Qualitätssiegel verliehen, literarische Relevanz beglaubigt. Die allgemeine Öffentlichkeit nimmt von diesen Vorgängen in der Regel erst einige Jahre später Notiz, wenn die ausgezeichneten Autoren auf dem Lehrplan ihrer Kinder landen. In diesem Jahr aber ist die Preissaison noch aus einem weiteren Grund ein Ereignis: Die wichtigsten Preise gingen ausschließlich an Frauen. Und zwar überwiegend an gestandene Intellektuelle, die auf den größten Teil ihres Arbeitslebens heute schon zurückblicken. Der Ingeborg-Bachmann-Preis ging an die 80-jährige Schriftstellerin Helga Schubert, der Georg-Büchner-Preis an die 82-jährige Lyrikerin Elke Erb, der Sigmund-Freud-Preis an die Historikerin Ute Frevert, der Johann-Heinrich-Merck-Preis an die Kritikerin Iris Radisch, der Heinrich-Heine-Preis an die Kritikerin und Buchhändlerin Rachel Salamander, der Joseph-Breitbach-Preis an die Jüngste im Bunde, die 1982 geborene Nora Bossong.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil diese Preise von unterschiedlichen Jurys verliehen werden und es sich deshalb nicht um eine symbolische Geste handelt, sondern um eine geschichtliche Konstellation. Es wurden vor allem Frauen ausgezeichnet, die über einen Zeitraum von ein, zwei Generationen hinweg das intellektuelle Leben der Republik kontinuierlich mitgeprägt haben. Die Preissaison 2020 zeigt, dass es im deutschen Literaturbetrieb ein Bewusstsein dafür gibt, dass diese Lebensleistungen zu wenig gewürdigt wurden und es etwas nachzuholen gibt.

Einer Quotenregelung hat es dafür nicht einmal bedurft, nur einer offenen Diskussion. Zur Verteidigung des Männerüberhangs bei den Auszeichnungen wurde oft das Argument hervorgeholt, das Geschlecht dürfe bei der Beurteilung ästhetischer Qualität keine Rolle spielen. Seitdem allgemein eingesehen wurde, dass mit den ästhetischen Kriterien etwas nicht stimmen kann, wenn sie doch wieder nur das Patriarchat reproduzieren, wurden sie sukzessive geändert. Themen und Wahrnehmungswelten, die lange als weiblich und damit per se kulturfern galten, sind längst hochkulturfähig. Dadurch ändert sich auch der Blick auf Gesamtwerke älterer Autorinnen, die nun rückwirkend ausgezeichnet wurden. Ute Frevert etwa ist berühmt geworden mit ihren Arbeiten zur Geschichte der Gefühle, Helga Schubert machte immer wieder ihr Dasein als Mutter zum Thema ihrer Erzählungen, Iris Radisch und Rachel Salamander behaupteten sich in der westdeutschen Literaturkritik jahrzehntelang in einer männlichen Hegemonie, Elke Erbs Gedichte werden heute vor allem von Jüngeren gelesen. Überfällig ist jede einzelne dieser Auszeichnungen.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2020
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