Süddeutsche Zeitung

Liberia:Mit Übergepäck ins Unbewusste

Lesezeit: 3 min

Graham Greene reist 1935 samt Bett und Badewanne nach Liberia. Dort schätzt er aber bald das einfache Leben.

Von Tobias Lehmkuhl

Liberia ist längst kein weißer Fleck mehr auf der Landkarte der Reiseliteratur: Rainer Merkel veröffentlichte erst jüngst einen Bericht über seine Fahrt ins Epizentrum der Ebola-Epidemie ("Go Ebola Go"), und der amerikanische Romancier Denis Johnson etwa begab sich in den Neunzigerjahren in das damals vom Bürgerkrieg geschüttelte westafrikanische Land ("In die Hölle"). Als sich der Brite Graham Greene im Jahr 1935 auf den Weg machte, um das liberianische Hinterland zu erkunden, waren ihm die Klischees, die auch mehr als ein halbes Jahrhundert später noch präsent sind, wohlvertraut: Liberia, ja das ganze tropische Westafrika galt und gilt als Dschungelhölle, Seuchenherd, als, kurz gesagt, Herz der Finsternis. Selbstverständlich hatte Greene Joseph Conrad gelesen, ließ sich davon aber nicht abschrecken, gemeinsam mit seiner Cousine Barbara Greene die waghalsige Reise zu unternehmen.

Was genau ihn zu dieser augenscheinlichen Wahnsinnstat bewegt hat, bleibt dabei einigermaßen rätselhaft. Es sei nicht das vollkommen klare Bewusstsein, welches eine Reise nach Westafrika einer in die Schweiz vorziehe, heißt es zu Beginn von "Reise ohne Landkarten". Allein eine gewisse "Zwielichtigkeit" der Gegend, das Versprechen etwas - was auch immer - dort zu finden, habe ihn angetrieben. Greene ist zu diesem Zeitpunkt dreißig Jahre alt, ein durchaus etablierter Autor, dessen Roman "Stamboul Train" gerade verfilmt worden ist. Nebenbei arbeitet er als Journalist. Sollte er später auch noch andere Reiseberichte verfassen, so ist es doch nun das erste Mal, dass er Europa verlässt.

Auf einem Frachtschiff geht es nach Freetown in Sierra Leone, von da aus mit der Eisenbahn an die liberianische Grenze und von dort schließlich, zu Fuß, viele Hundert Kilometer durch den Wald bis zurück an die Küste und nach Monrovia. Mit dabei: sechs Kisten Nahrungsmittel, Betten, Sessel, sogar eine Badewanne. Genug Gepäck für fünfundzwanzig Träger. Die genaue Route ist völlig unklar, das Hinterland unerforschtes Terrain auf den Landkarten Westafrikas, höchstens noch mit der Warnung "Kannibalen" versehen. Greene und seine Cousine müssen sich von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort durchfragen und erhalten dabei nicht selten die widersprüchlichsten Angaben. Immer wieder murren die Träger, weil ihnen einzelne Etappen zu weit erscheinen - vier von ihnen sind allein dazu abgestellt, Barbara Greene in einer Hängematte durch den Dschungel zu tragen. Auch deswegen wohl mutet ihr Bericht "Im Hinterland", der 2008 auf Deutsch erschienen ist, etwas munterer an als der ihres Vetters.

Graham Greene läuft wirklich zu Fuß, auch wenn sich gleich in einer der ersten Nächte ein Sandfloh schmerzhaft unter einen seiner Zehennägel bohrt. Die Widrigkeiten der Natur spielen ohnehin eine der beiden Hauptrollen dieser Reise. Schon auf dem Frachter nach Freetown "konnte man ein Gespräch über Religion, Bücher oder Politik beginnen, es endete unweigerlich mit Malaria, Pest und Gelbfieber".

Die Angst vor Krankheiten begleitet die Reisenden die ganze Zeit, wenn sie auch irgendwann vergessen, ihr Chinin zu schlucken - was sich sofort rächt. Noch unangenehmer aber sind all die Kakerlaken, Falter und vor allem Ratten, die die liberianische Nacht bevölkern und die sich sogar auf das Gesicht des Schlafenden setzen, um seinen Speichel zu schlecken.

Die andere Hauptrolle spielt in "Reise ohne Landkarten" die fremdartige Kultur, auf die Greene trifft, vor allem die Figur des "liberianischen Teufels", der die jungen einheimischen Männer, als eine Art Initiationsritus, in den Wald entführt. Angst vor den vermeintlich menschenfressenden Einheimischen nämlich hat Greene nicht im Geringsten, im Gegenteil: "Ich hatte die ganze Zeit über den Eindruck eines hohen Niveaus an Höflichkeit, dem mich anzugleichen meine Pflicht war."

Steht die Reise ins "Herz der Finsternis" gemeinhin bildlich für eine Reise ins Unbewusste - und deutet auch Greene an, dass er sich auf einem solchen Weg wähnt -, ist der Effekt bei ihm dann doch ein gänzlich überraschender: Mag er auch im Land des Unbewussten angekommen sein, schreckt es ihn doch keineswegs. Vielmehr habe er sich noch nie so frei und glücklich gefühlt. Mögen Hitze und Insektenreichtum auch eine Qual sein, das eigentliche Unbehagen löst die sogenannte Zivilisation aus und das, was sie in Afrika, an der Küste vor allem, angerichtet hat. Denn hier bedeute sie vor allem Ausbeutung. Entsprechend werde man nur hier bestohlen, nicht im Hinterland. Europa also ist es, das bestimmte Werte zerstört habe, wenn es sich auch selbst einrede, es hätte sie überhaupt erst entwickelt.

Insofern ist Graham Greene nicht zuletzt unterwegs zu den wahren Ursprüngen, zur Wiege der Menschheit eben. Er findet sie dort, wohin die Kautschuk-Plantagen der Firma Firestone noch nicht vorgedrungen sind.

Hier hätte man übrigens gerne noch mehr gewusst: Inwiefern war Liberia eine freie Republik, umgeben von europäischen Kolonien? Welche Rolle spielten die amerikanischen Unternehmen in den Dreißigerjahren? Gab es tatsächlich so gar keine brauchbaren Landkarten? Und wer war jener deutsche Sonderling, dem die Greenes im Grenzgebiet begegnen? Dieser hoffte, so berichtet Greene, eines Tages eine Dissertation zu schreiben, um sie bei Professor Westermann an der Berliner Universität einzureichen, und er war der Einzige, "der genau wusste, was er alles nicht wusste. Er sprach Mende, er lernte gerade Buzie und beherrschte ein paar Brocken Pelle. All das benötigte Zeit. Aber er war ja auch erst seit zwei Jahren in Westafrika."

Ein kundiges Nachwort also fehlt diesem Band, der, gerade weil er so viele Fragen aufwirft, unbedingt lesenswert ist.

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Quelle:
SZ vom 21.05.2015
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