Süddeutsche Zeitung

Industrialisierung in der Kunst:Riesenhafte Kellergeister

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Die Ausstellung "Vision und Schrecken der Moderne" im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum war zum Friedrich-Engels-Jahr geplant. Die Konfrontation der darstellenden Künste mit der Ästhetik einer technisierten Welt bleibt als Thema unverhofft aktuell.

Von Alexander Menden

Eine Frau mit Kopftuch, Reisigpäckchen und Tragetasche - sie ist nur von hinten zu sehen - überblickt eine weitläufige Brache, an deren fernstem Rand sich dicht an dicht vierstöckige Wohnblocks erheben. Was wie ein absolut gegenwärtiges Schwarz-Weiß-Dokument urbaner Ödnis wirkt, entstand 1898 in Berlin-Charlottenburg. Der Fotograf, Heinrich Zille, wird bisweilen zu einer Art Spitzweg des Berliner Arbeiterprekariats versüßlicht. Dass er die desaströsen Lebensbedingungen der Menschen, die er zeichnete, so unmittelbar fotografisch dokumentierte, dürfte für manchen Besucher eine der zahlreichen faszinierenden Entdeckungen sein, welche die Ausstellung "Vision und Schrecken der Moderne" im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum bereithält.

Ursprünglich zum Ausklang der Feierlichkeiten zum Friedrich-Engels-Jahr 2020 in dessen Geburtsort geplant, konnte die Schau coronabedingt erst jetzt eröffnet werden. Doch ihr Leitgedanke, die Untersuchung des Einflusses der Industrialisierung auf die darstellenden Künste und deren Ringen mit der vollkommen neuartigen Ästhetik einer zunehmend technisierten Welt, ist an kein Jubiläum gebunden. Das Von-der-Heydt-Museum hat vor allem aus seinen eigenen reichhaltigen Beständen geschöpft und präsentiert eine so breite wie detaillierte Betrachtung immenser sozialer, politischer und technischer Umwälzungen und deren ästhetischer Folgen.

Die Fabrikgebäude fügen sich auf der Vedute geradezu pittoresk in die Landschaft ein

Das 19. Jahrhundert ergeht sich noch in weitgehender Ausblendung der landschaftlichen Veränderungen, die Schlote und utilitaristische Manufakturarchitektur bedeuten. Wenn etwa Hermann Würz den späteren Wuppertaler Stadtteil Elberfeld, einen schon früh durchindustrialisierten Ort, von einer Anhöhe aus darstellt, dann fügen sich die Fabrikgebäude wie bei einer Modelleisenbahn geradezu pittoresk in die Vedute ein.

Während die Auffassung des Arbeiters als heroische Einzelfigur, als neuzeitlicher Nachfolger der Herkules-Bronzen aus Antike und Renaissance noch relativ übergangslos in eine vorindustrielle Tradition passt, erweist sich die Darstellung mechanisierter Arbeitsvorgänge selbst schon als größere Herausforderung. Eine in ihrer Bizarrerie besonders unterhaltsame Arbeit ist Heinrich Kleys großformatiges "Die Kruppschen Teufel", in dem spitzohrige Dämonen sich in einer Werkshalle wie riesenhafte Kellergeister an flüssigem Eisen laben. Die Arbeiter zu ihren Füßen scheinen nur dazu da zu sein, um den Durst dieser Monster zu stillen.

Solchen mit historisierender Bildsprache arbeitenden Versuchen, Rohstoffverwertung im großen Stil mythologisch zu überhöhen, stehen zur gleichen Zeit bereits neue, dem Gegenstand gemäßere Ansätze gegenüber. Marianne von Werefkins expressionistische Schlote, die dominant über eine geschwärzte Landschaft hinausragen, entstehen 1912, im selben Jahr wie Kleys Teufel. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren etabliert sich eine Landschaftsmalerei, die Verschmutzung und irreversibler Transformation durch die Industrie Rechnung trägt, wie zum Beispiel Max Peiffer Watenphuls "Landschaft an der Ruhr" (1935/36). Carl Grossbergs "Der gelbe Kessel" (1933) wiederum steht exemplarisch für eine technizistische Distanz, die der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden kann und die ebenfalls in Wuppertal gezeigte skulpturale Industriefotografie von Hilla und Bernd Becher vorwegzunehmen scheint.

Die harschen politischen und sozialen Konsequenzen von Landflucht, Urbanisierung und gleichgeschalteter Arbeit sind neben Natur und Architektur ein weiterer Schwerpunkt der Wuppertaler Schau: Da sind Käthe Kollwitz' Weber- und Bauernkriegszyklen, die gerade nicht historisierend, sondern aktualisierend auf das Elend der Massen schauen und besonders die Situation arbeitender Frauen aufgreifen. Da ist Christoph Volls rachitischer "Nackter Junge" (1925/26), mit einem Körper, der als Emblem der Auswirkungen von Kinderarbeit gelesen werden kann. Bei der Auswahl der Werke ordnen die Kuratoren die politische Perspektive erfreulicherweise keinem übergreifenden ideologischen Gedanken unter, sondern versuchen, die Vielfalt der Positionen zu einem extrem komplexen Gegenstand widerzuspiegeln.

Natürlich gäbe es gerade aus der Frühphase der Industrialisierung einige zentrale Werke, die man sich in einer so enzyklopädisch arbeitenden Ausstellung noch gut hätte vorstellen können - Gustave Courbets "Steineklopfer" etwa oder William Turners "Regen, Dampf und Geschwindigkeit", der genau jenen Gegensatz zwischen Industrie und Landschaftsidyll aufgreift, den die meisten seiner Zeitgenossen ignorieren. Dennoch ist es eine große Leistung dieser Schau, unter Nutzung der eigenen Sammlung ein so komplexes Thema derart gültig und überraschend zu beleuchten.

Vision und Schrecken der Moderne - Industrie und künstlerischer Aufbruch , bis zum 11. Juli im Von-der-Heydt Museum, Wuppertal. Der Katalog kostet 24,50 Euro.

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