Süddeutsche Zeitung

Klassik:Genie der Besessenheit

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Der Pianist Rudolf Serkin spielte sich nie in den Vordergrund und hielt unerschütterlich am Notentext fest. Gerade deshalb kam er der Musik so nahe wie kaum jemand unter seinen Pianistenkollegen.

Von Helmut Mauró

Er war nicht nur irgendein recht bekannter Pianist, sondern eine pianistische, musikalische, kulturelle Institution des modernen Amerika und der ganzen Welt. Rudolf Serkin, 1903 in Eger geboren und musikalisch in Wien aufgewachsen, zog 1933 in die Schweiz, und zwar in die Doppelhaushälfte neben den legendären Geiger Adolf Busch, dessen Tochter er zwei Jahre später heiratete. Mit Adolf Busch und dessen Bruder Hermann gründete er das Busch-Serkin-Trio, zog mit den Buschs dann 1939 nach Vermont / USA. Serkin unterrichtete an einer der weltweit führenden Musikschulen, dem Curtis Institute of Music, dessen Leitung er 1968 übernahm. Mindestens so einflussreich war jedoch die Gründung des Marlboro Festivals 1951.

Aus der ursprünglichen Idee Adolf Buschs, Profis und Amateure in einer Sommerakademie zusammenzubringen, wurde bald eines der renommiertesten Klassikstar-Festivals von Weltgeltung. 1991 starb Serkin 88-jährig in New York, vom Publikum hochverehrt, von Kollegen und Kritikern geschätzt, insbesondere den Anhängern der so genannten Werktreue. Der Einfluss Rudolf Serkins auf die nordamerikanische Musikkultur ist kaum zu überschätzen. Im Grunde brachte er die alte deutsche Klavierschule aus Wien nach Übersee - zu seinen herausragenden Schülern gehörte nicht zuletzt sein Sohn Peter Adolf - aber auch ein grundsätzliches Kulturverständnis und eine Wertschätzung, die nicht unbedingt zum Gründungsmythos der USA und deren zivilisatorischer Grundausstattung gehört.

Dass Rudolf Serkin aber auch als Pianist und nicht nur als Kulturbotschafter zu Weltgeltung gelangte, ist fast ein bisschen verwunderlich. Denn er war nicht wirklich ein virtuoses Naturtalent, sondern eines, das durch unendlichen Fleiß und Disziplin am Ende höchstes pianistisches Niveau erreichte. Ein Genie der Besessenheit, ein Künstler gewordenes Lob der Tüchtigkeit, das perfekt die Erwartungshaltung der 1940er und 1950er Jahre erfüllte, und das auch heute noch beim Anhören der alten Aufnahmen in den besten Momenten vergessen lässt, dass Musik doch so viel mehr sein kann und letztlich auch sein muss. Hört man Serkins Einspielungen von Klaviersonaten Ludwig van Beethovens, wie sie in der nun erschienenen "Complete Columbia Album Collection (Sony Classical) enthalten sind, so hört man vor allem eines: die riesige Distanz zur genialischen Welt Friedrich Guldas oder dem ernsten Irrwitz, der Yves Nat auszeichnete.

Wenn man einmal die Erfahrung gemacht hat, dass große Musik mehr sein kann als gute Unterhaltung, dass sie Gefühls- und Denkräume erschließt, die man bis dahin von sich selber nicht kannte, dann wird man sich vielleicht wundern über die zurückhaltende Grundhaltung Rudolf Serkins und nach vordergründig Aufregenderem verlangen.

Da steht ein nackter König, dem Weltenlauf ergeben, aber mit einer bescheidenen Fröhlichkeit

Wenn man umgekehrt emotional ausgelastet und intellektuell mit der Welt im Reinen ist, dann schätzt man den unaufdringlichen Spätstil dieses Pianisten, der sich selber nie in den Vordergrund rückt und einen unerschütterlichen Glauben an den Notentext zelebriert, aus dem das Wesentliche sich schon selber Bahn brechen wird, wenn man nur den Anweisungen des Komponisten folgt. Serkin pflegt da durchaus eine hohe künstlerische Qualität, wie sie über Jahrzehnte das Konzertleben beherrschte.

Und es gibt ja viele Stücke, bei denen weniger mehr ist und noch weniger am allermeisten. Zum Beispiel Beethovens sogenannte "Mondscheinsonate", für die man sich mitunter ein weltweites Spielverbot wünschte. Und doch, hört man dieses Klischeestück aus den spröden Händen Serkins, hört man vor allem die Zugeknöpftheit der 1940er-Jahre, den starken Wunsch, niemandem auf die Füße zu treten und nicht weiter aufzufallen.

Serkin hat das Stück zehn Jahre später noch einmal aufgenommen, 1951 zu Hause in Battleboro, und noch einmal zehn Jahre später, 1962, diesmal wieder in New York. Serkin hat sich in diesen zwanzig Jahren sehr verändert. Die erste Aufnahme der Mondscheinsonate erscheint fast harmlos, die letzte: schwer, pathetisch, entblößt. Da steht ein nackter König, dem Weltenlauf ergeben, aber mit einer bescheidenen Fröhlichkeit, einer kleinen privaten Hoffnung für das große Ganze. Da haben Lebenszeit und Weltenlauf das Spiel des Pianisten aufgeladen und groß gemacht.

Aber welch ein Unterschied bleibt trotzdem zu anderen Musikern? Etwa zu dem französischen Pianisten Yves Nat, der den pseudoromantischen Kopfsatz dieser "Mondscheinsonate" in ein tiefes Tränenbecken taucht und schließlich den Beginn des Finales blutspritzend zerhäckselt? Oder zu Evgeny Kissin, der durch den ersten Satz schreitet wie durch ein Tal der Trauer, aus dem es gar kein Entrinnen mehr gibt, um im Finale doch noch, ohne inhaltliche und formale Glättung, Frieden mit sich zu schließen. Das sind nicht mehr nur Sichtweisen und Interpretationen, das geht tiefer. Den allermeisten aktuellen Pianisten ist so eine Haltung fremd. Denn darum geht es dabei: um eine Haltung, für die man als Person einsteht. Mit seinem Ruf, seiner Karriere, seiner materiellen Existenz.

Jüngere wie Alice Sarah Ott, Yuja Wang oder Igor Levit trauen sich alles Mögliche. Vieles überrascht, die Ungenauigkeiten, die nassforsch überpinselt werden, das recht frei verhandelte rhythmische Gefüge bei Ott und anderen. Manches macht Sinn, eliminiert dabei aber anderen Sinn und ist am Ende also oftmals ein Verlustgeschäft. Insbesondere in den langsamen Passagen entgleiten Ott und Levit Metrum und Kontur, aber auch Stimmverteilung und Klangbildung selber werden zum Problem. Es soll interessant klingen, bleibt aber unter der klimpernden Oberfläche ganz uninteressant. Der hochfahrenden dramatischen Geste fehlt dann meist der musikalische konzise Unterbau. Tritt da ein grundsätzliches Missverständnis zutage, wie ein - natürlich auch ohne explizite Anweisung legitimes - Rubato zu handhaben ist, wenn es Sinn machen soll?

Mit welch luzider Präzision ging dagegen einst Grigory Sokolov als 25-Jähriger Beethovens Hammerklaviersonate an. Zwar legt auch er nicht allzu großen Wert auf scharfe Konturen, was kleinere musikalische Einheiten betrifft. Das Stakkato der Eröffnungsakkorde nimmt erstaunlicherweise fast kein Pianist ernst, so wenig wie das vollkommen logisch akzentuierte Ritardando am Themenende. Aber Sokolovs markante Ausdruckssicherheit und Unbedingtheit führen in ganz andere Sphären. Es entsteht nicht nur eine schlüssige Tonerzählung, sondern, wie nebenbei, ein ganzer Kosmos von Klangnarrativen.

Das Entscheidende, und dies wiederum kann man selbst in Serkins zunächst etwas betulichem Herantasten an diese Hammerklaviersonate heraushören, ist die Balance von gestalterischer Kraft, Gesamtüberblick und die Balance, sich als Künstler sehr wichtig und als Mensch gar nicht wichtig zu nehmen. Eine gewisse Schizophrenie gehört also zur kategorischen déformation professionelle.

Der Grund aber, warum man den Verlust einer elaborierten Erzählkunst überhaupt als einen wesentlichen wahrnimmt, den man nicht mit ästhetischen Moden und Petitessen kompensieren kann: Selten erlebt man bei den jüngeren Pianisten, mit sehr wenigen Ausnahmen, den Eindruck jener Unbedingtheit, wie sie Friedrich Gulda oder Yves Nat wie selbstverständlich mitliefern oder besser: als Grundlage ihres Künstlerdaseins verstehen.

Serkin redet dem Hörer nicht drein, er liefert eine vermeintlich neutrale Grundlage

Bei Friedrich Gulda sitzt schon der erste Takt der Hammerklaviersonate wie ein Statement, von dem er nicht mehr abrückt. Und wenn, dann nur, um vermeintliche Lösungen als Irrwege zu karikieren. Gulda war bei der ersten Aufnahme der Hammerklaviersonate 24 Jahre alt. Später hat er sie noch einmal, fehlerfreier, "männlicher", wie er sagte, aufgenommen. Er spielte nicht den Revolutionär, er lebte das Prinzip Umwälzung als schmerzlich kreativen Prozess, als sokratische Konsequenz, potenzielle Selbstvernichtung inklusive. Und dies ergibt sich allein aus seinem Spiel, vor allem den Live-Aufnahmen, aber auch einigen, mitunter auch missglückten, Versuchen, im Studio zu vervollkommnen, was live nicht gelang. Was er über Beethoven wusste, wissen wir nicht. Was er von Beethoven verstand, kann man hören.

Es gibt Pianisten, bei denen ist das umgekehrt, und auch an deutschen Hochschulen wird oft genug Interpretation gelehrt, bis ins Detail, wo es doch eigentlich darum gehen sollte, die Voraussetzungen, vor allem die technischen Grundlagen für eine eigene Sichtweise, ein eigenes Erleben, zu vermitteln. Bei Serkin erscheint es geradezu umgekehrt zu sein, denn selten hat sich ein Pianist so unerschütterlich auf den reinen Notentext verlassen und ist dabei der darin verschlüsselten Musik so nahe gekommen. Besonders in so heiklen Partituren wie dem Andante sostenuto der posthum veröffentlichten B-Dur-Sonate D 960 von Franz Schubert wird dies deutlich.

Serkin mag da etwas zu unbedarft herangehen, zu hausbacken, aber die allermeisten Pianisten scheitern hier, weil sie zu viel mitteilen wollen von dem, was sie zu Recht heraushören. Außer Valery Afanassiev und Daniil Trifonov ist dieser Sonate kaum ein Musiker gerecht geworden.

Auch Krystian Zimerman tut in seiner jüngsten Aufnahme gut daran, sich fest an den Notentext zu halten, lieber ein bisschen zu spröde zu klingen, als zu deutungs- und gefühlsehrgeizig. Zimerman schafft es sogar, dem Kopfsatz jene starre Grundhaltung zu nehmen, die vielen Kollegen konstitutiv schien; er belebt schier unmerklich die dumpfen Bassschritte zu einem sanften Impuls und braucht auch für die klanglichen Schrecksekunden am Ende der Reprise kein Fortissimo - das vorgeschriebene Forte und Mezzoforte reicht ihm völlig.

Dadurch kann er eine selten erreichte feine Balance halten, die Serkin nicht gegeben ist. Dessen Anschlag ist im Vergleich mit Zimerman ein hölzern klopfender, seine Aufrichtigkeit und möglicherweise auch Unvoreingenommenheit gegenüber dem Werk reichen nicht hin, um es so tiefgründig zu durchleuchten und so dringlich wirken zu lassen, wie dies Zimerman gelingt, oder so mehrdimensional aufzufächern und gleichermaßen intellektuell und emotional aufzuladen, wie dies bei Afanassiev und Trifonov wie selbstverständlich der Fall ist.

Er war eine Wahrheitsinstitution der musikalischen Kunst

Aber, und es ist ein gewichtiges Aber: Serkin redet dem Hörer auch nicht drein. Er liefert, was man bis in die 1970er-Jahre sehr schätzte, eine vorgeblich neutrale Grundlage, auf der jeder seinen eigenen Schubert oder Beethoven aus seiner individuellen Hör- und Lebenserfahrung entwickeln konnte. Das hat mit Zeiten zu tun, in denen Gefühle nicht Variablen des Lebensstils waren oder des Zeitgeistes, sondern auf existenziellen Erfahrungen fußten. Auf materiellen Totalverlusten bei wirtschaftlichen Umwälzungen, auf direkten oder indirekten Kriegserlebnissen. Da gibt es im wahren Leben keinen Spielraum für Deutungen mehr, und da will man auch in der Kunst keine Relativierungen, sondern Wahrheiten. Rudolf Serkin war so eine Wahrheitsinstitution der musikalischen Kunst. Und Musik war für jeden kultivierten Europäer, der noch im 19. Jahrhundert geboren wurde, nicht nur ein bisschen Religionsersatz, sondern die Leitkunst schlechthin.

Sie hatte sich schon Anfang des 19. Jahrhunderts als solche durchgesetzt und blieb es mindestens bis zum Beginn des ersten Weltkriegs. Heute, da man Kunst als Unterhaltungsware einschätzt und umkehrt auch Unterhaltungsware als Kunst, sind die Auseinandersetzungen über eine geglückte oder gelungene musikalische Umsetzung einer Partitur kaum noch verständlich zu machen. Die Kategorien des Wahren und Richtigen sind längst für nichtig erklärt, und wer sich weiterhin darauf beruft, gerät zu Recht in den Verdacht, unredlich oder unwissend zu sprechen und einer im schlechten Sinn romantischen Schimäre hinterherzujagen, die es vielleicht nie gegeben hat. Aber spätestens hier kann man bei Serkin nachhören: Es hat sie gegeben. Und sie war groß.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2017
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