Süddeutsche Zeitung

Israel:"Ich habe kein anderes Land"

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Ein altes Lied wird zur Hymne der Anti-Netanjahu-Proteste.

Von Léonardo Kahn

Ob in Jerusalem, Tel Aviv oder Haifa - in diesen Tagen ist überall die gleiche Melodie zu hören: "Ein li Eretz acheret", auf Deutsch "Ich habe kein anderes Land." Selbst in der Knesset stimmen Oppositionelle das Lied an. Es war auch am Mittwoch zu hören, dem "Tag der Störung", zu dem die Protestbewegung aufgerufen hatte. Es gab schwere Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstranten, Tränengas und Wasserwerfer kamen zum Einsatz, es gab Verletzte und Festnahmen.

Obwohl der Textinhalt politisch extrem aufgeladen ist, lassen sich die Parolen keiner Richtung eindeutig zuordnen. Sowohl linke als auch rechte Israelis beanspruchen die Deutungshoheit über die Strophen. Die Parolen stammen aus einem Trauergedicht, das der Poet Ehud Manor seinem Bruder Jehuda gewidmet hat, der im Alter von 19 Jahren in der militärischen Auseinandersetzung zwischen Ägypten und Israel 1968 gefallen ist.

Zwanzig Jahre später, als Israel den Süden Libanons besetzte, machten die Musikerinnen Gali Atari und Corinne Allal aus dem Gedicht ein Lied. Die Strophen flossen sofort in den israelischen Protest-Kanon ein, weil sowohl die Pazifisten als auch die Kriegsbefürworter darin ihre Forderung bestätigt sahen.

Der Songtext ist tatsächlich ambivalent. Nationalisten deuten Sätze wie "Nur ein Wort auf Hebräisch dringt durch meine Adern zu meiner Seele" als Zeichen ihrer Überlegenheit gegenüber nicht jüdischen Bürgern. In der Strophe "Ich werde nicht schweigen, nur weil mein Land sein Gesicht verändert hat", drei Verse später, erkennen linke Israelis hingegen einen Appell, den Staat vor einem Rechtsruck zu bewahren.

Dennoch einigt sich fast das gesamte demokratische Spektrum auf die gleiche Prämisse: Sie sind auf den demokratischen Staat Israel angewiesen, denn sie haben "kein anderes Land", wie es im Refrain heißt.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Refrain gerade in Israel auf Resonanz stößt, wo doch fast jede Familie eine eigene Migrationsgeschichte hat. Selbst die Komponistin Corinne Allal fand früher diese Formulierung "befremdlich", wie sie in einem Telefonat sagt. "Ich habe doch ein anderes Land, ich bin ja in Tunis geboren", sagt die 67-jährige Rockerin am Telefon. Die Erkenntnis sei ihr später gekommen: Die Vergangenheit sei das eine, der Traum eines "kollektiven" Israels etwas anderes. Und es sei eben diese Sehnsucht nach Einheit, die die israelische Gesellschaft jenseits der politischen Spaltung verbinde.

Während des Telefonats sitzt Corinne Allal in ihrem Studio in Tel Aviv. Sie habe viele Alben komponiert, erzählt sie, doch das eine Lied kehre "wie ein Vogel" immer wieder zu ihr zurück. Als die US-Oppositionsführerin Nancy Pelosi vor zwei Jahren in ihrer Rede nach dem Sturm auf das Kapitol daraus zitiert hat, fiel sie aus allen Wolken.

Heute ist ihre Melodie die Hymne der Anti-Netanjahu-Bewegung, was sie "wirklich aufregend" findet. Sie schließt sich dem Protest an, geht raus auf die Straße und singt bei Kundgebungen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sie eine Gegnerin des Premierministers ist - ganz im Gegenteil. Sie bezeichnet Bibi als "chacham", einen "weisen Mann", der bloß aufwachen müsse, um die religiöse Partei aus der Regierung zu schmeißen. Die aktuelle Protestbewegung vereint viele, teils gegensätzliche politische Strömungen - genauso wie das Lied, das zur zentralen Hymne des Landes in diesen stürmischen Zeiten geworden ist.

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