Süddeutsche Zeitung

Hersbruck:Hochschule des Hinhörens

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Das 20. Internationale Gitarrenfestival ist längst zum Vorbild für stil- und genreübergreifende Programme geworden

Von Oliver Hochkeppel, Hersbruck

Die Gitarre ist in vielerlei Hinsicht ein Zwitterwesen. In der akustischen Variante eines der leisesten, ist sie in der E-Version eines der lautesten Instrumente. Zwar ist sie seit einigen Jahren das meistverbreitete Einstiegsinstrument noch vor dem Klavier, gleichzeitig gehen große Hersteller wie Gibson pleite, weil den aktuellen Niedergang in der Rock- und Popmusik der Aufschwung im Jazz - wo die Gitarre bis vor einiger Zeit ebenfalls eher ein Exot war - nicht wettmachen kann. In der Klassik wiederum führt sie ein fast hermetisch abgeriegeltes Eigenleben, das den genreübergreifenden Kontakt - und sei es nur hinüber zur halbakustischen Gitarre - scheut wie der Teufel das Weihwasser. All das hat dazu geführt, dass die Gitarre in allerlei Nischen und Elfenbeintürmen gelandet ist.

Der Münchner Gitarrist Johannes Tonio Kreusch hat sich damit nie abgefunden. Schon die klassische Ausbildung empfand er als (musik)weltfremd, als Musiker revolutionierte er nicht nur den bis dato auf schlampige Notierungen konzentrierten Zugang zu Heitor Villa-Lobos, er experimentierte mit dem Gitarrenklang und fand - mithilfe seines Bruders, des Jazzpianisten Cornelius Claudio Kreusch - den Weg zur Improvisation. Und er versuchte früh auch von der anderen Seite her, der Gitarre mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen: als Organisator und Veranstalter. Als er vor 14 Jahren das Angebot bekam, die künstlerische Leitung des beschaulichen Gitarrenfestivals in Hersbruck im Nürnberger Land zu übernehmen, sah er dafür eine weitere Chance.

Es ist mehr als beeindruckend, was sich daraus entwickelt hat, wie man nun beim Jubiläum, der 20. Ausgabe des "Internationalen Gitarrenfestivals Hersbruck" beobachten konnte. Diese Woche ist zum Vorreiter und Vorbild für stil- und genreübergreifende Programme sowie die Verschränkung von Konzert- und Ausbildungsbetrieb geworden. Ausnahmslos die Großen ihres Fachs sind hier inzwischen zu erleben, fast alle geben nicht nur ein Konzert, sondern auch Workshops, Einzelunterricht und Meisterklassen; einige wie der Fingerstyler und Youtube-Star Adam Rafferty oder der österreichische Professor Michael Langer reisen sogar nur dafür an. Alle preisen den einzigartigen Charakter, die zwanglose, inspirierende und freundschaftlichen Atmosphäre diesen Treffens der ganzen Gitarristenfamilie.

Vor allem aber ist das Publikum mitgewachsen. Fast alle Konzerte waren voll - und das in einem 500-Plätze-Saal in einer 13 000-Einwohner-Kleinstadt. Sogar bei einer eigentlich überdimensionierten "Classical Guitar Gala" wurden nach fast vier Stunden noch zwei Zugaben erklatscht, weil man die überragende Qualität des Gebotenen erkannte und schätzte. Natürlich liegt dies auch am Glücksfall der Rahmenbedingungen. Daran, dass man seit jeher auf das AOK-Bildungszentrum zurückgreifen kann, wo sich im Urlaubsmonat August statt Sozialversicherungsfachangestellten-Azubis eine Woche lang Gitarristen wie in einem Reagenzglas austoben können. Daran, dass die kommunalen Amtsträger - Alt-Bürgermeister und Festivalgründer Wolfgang Plattmeier leitet inzwischen den Festival-Förderverein, sein Nachfolger Robert Ilg fehlt bei keinem Konzert und erledigt im Notfall auch Fahrdienste für Musiker und Gäste - die Chance erkannt haben, ihr Städchen fetter auf die Landkarte zu bringen und bedingungslos dahinter stehen. Daran, dass die inzwischen in der dritten Generation arbeitenden Organisationsteams alles perfekt am Laufen halten. Oder daran, dass man seit drei Jahren mit der neugebauten GERU-Halle über einen adäquaten Konzertsaal (neben der Stadtkirche) verfügt.

Aber vor allem liegt es an der konzeptionellen Aufbauarbeit von Kreusch. "Es geht inzwischen um viel mehr als nur um Gitarre", sagt er. "Wichtiger ist die gemeinsame Erfahrung und Entdeckung von tiefgründiger, wirklich berührender Musik jenseits des alles einebnenden Mainstreams. Als Statement für die Bedeutung der Kultur für eine funktionierende Zivilgesellschaft." Wenn es in einem "Guitar Evolution" betitelten Abend von der Barockmusik über die Hochromantik bis zum modernen Klassik-Kanon geht, dann ersetzt dies für die Vermittlung von Musikgeschichte locker zwei Jahre langweiligen Schulunterrichts. Weil Kreusch mit dem Lautenisten Eduardo Egüez, dem auf historischen Gitarren spielenden Spezialisten Pavel Steidl (der mit seinen einfallsreichen, moderne Akzente setzenden Interpretationen selbst einen etwas abgehangenen Johann Caspar Mertz als Vorläufer des Wienerlieds und gar des Austropops sichtbar werden lässt) und dem niederländischen Jungstar und Hersbruck-Debütanten Jan Depreter den richtigen Bogen schlägt.

Fast an jedem Abend gelangen solche Bögen. Und an der Seite der in diesem Flair besonders aufdrehenden Topstars wie dem Klezmer-King David Orlowsky, dem Oud-Revolutionär Rabih Abou-Khalil, der so witzig und wuchtig war wie selten, den brasilianischen Klassik-Legenden Sergio & Odair Assad und Publikumsliebling Carlos Barbosa-Lima oder dem Django-Reinhardt-Erben Stochelo Rosenberg gab es stets Entdeckungen. Wie das in Paris lebende Duo der japanischen Flötistin Mie Ogura und des bulgarischen Gitarristen Atanas Ourkouzounov, die mit einem stark von Improvisationen durchzogenen Programm von Bartok über Ralchev bis zu Chick Corea und Keith Jarrett begeisterten. Oder der blutjunge russische Fingerstyler Alexandr Misko, der mit Einfällen wie dem Bogenspiel per Essstäbchen der Gitarre wieder einmal neue Wege eröffnet. Wie es dieses Festival seit langem und hoffentlich noch lange tut.

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SZ vom 19.08.2019
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