Süddeutsche Zeitung

Graphic Novel:Die Verwirrungen des Zöglings Riad

Lesezeit: 3 min

Syrien in den Achtzigern, das Leben in einer Diktatur: Riad Sattouf erzählt davon aus der Sicht eines Kindes, im autobiografischen Comic "Der Araber von morgen".

Von Alex Rühle

Klingt eigentlich extrem spröde. Eine Kindheit im Syrien der Achtzigerjahre. Erzählt als Graphic Novel, in nur zwei Farbtönen. Wer will denn so etwas lesen? Anscheinend alle: Der erste Band von "L'Arabe du futur" hat sich allein in Frankreich mehr als 200 000 Mal verkauft und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Der Comiczeichner und Filmemacher Riad Sattouf, geboren in Paris, aufgewachsen in Libyen und Syrien, war selbst völlig überrascht von dem Erfolg. Er hatte sich eigentlich nur nach dem Sturz von Gaddafi und dem Ausbruch des Syrienkrieges all die Bilder und Geschichten von der Seele malen wollen, die plötzlich wieder auftauchten, Albtraumfetzen aus einer fernen Kindheit.

Was "Der Araber von morgen" so kraftvoll macht, ist diese extrem subjektive Perspektive, aus der heraus Sattouf seine mehrteilige Autobiografie erzählt: Erwachsene, Räume, alles wird aus der Untersicht gezeichnet und wirkt so fast immer bedrohlich groß, schließlich sehen wir diese Welt aus der Sicht eines kleinen Jungen. Das führte dazu, dass in Frankreich viele Sattoufs Erinnerungen mit René Goscinnys "Kleinem Nick" verglichen haben, was doch falsche Erwartungen wecken dürfte.

Natürlich, hier wie dort nutzen Goscinny und Sattouf die Naivität des kindlichen Blicks, um die Welt der Erwachsenen bloßzustellen: Es ist eben alles so, wie es ist, man muss es hinnehmen, die Welt der Erwachsenen ist verrückt und unerklärlich. Aber während es Goscinny und seinem Zeichner Jean-Jacques Sempé um eine liebevoll witzige Abrechnung mit dem harmlos bourgeoisen Mittelstandsleben im Frankreich der 60er- und 70er-Jahre ging, sehen wir hier einen kleinen Jungen mit schreckgeweiteten Augen durch eine wüste Erinnerungslandschaft stapfen.

Auch das ist oft witzig, aber der Humor ist doch eher rabenschwarz, grotesk und grausam. Ergiebiger ist ein anderer Vergleich. Marjane Satrapi hat in "Persepolis" die Geschichte eines Kindes erzählt, das die Islamische Revolution in Iran miterlebt. Und so wie Satrapi über ihre Autobiografie westlichen Lesern Nachhilfeunterricht in Sachen iranischer Alltag gab, so erzählt Sattouf hier mittels Anekdoten aus seiner Schulzeit gleichzeitig viel über den Alltag in einem arabischen Land der Achtzigerjahre und über politische Hintergründe - Panarabismus, Clanwirtschaft und das Leben in einer Diktatur. Von dem vermeintlich so großartigen interreligiösen Miteinander, das Syrien in den Nullerjahren für einige naive Touristen zu einem ökumenischem Mekka mit sanft autoritärer Note machte, ist hier nichts zu sehen, den Kindern wird vom ersten Schultag an nur zweierlei eingetrichtert: Israel muss endlich vernichtet werden, und lange lebe Hafis al-Assad.

Schule also. Das erste Schuljahr. Die Verwirrungen des Zöglings Riad. Der ist sechs Jahre alt, seine blonden Locken wirken wie ein Neonschild: Achtung, hier kommt der Fremde. Weshalb er im Pausenhof besonders laut die antisemitischen Parolen schreit, die anderen Kinder halten ihn sonst doch nur wieder für einen Juden. Riad versteht die Schulwelt nicht: Die Lehrerin, die einen Hidschab trägt und dazu knallenge Röcke und Stöckelschuhe. Die Strafen, die sie aus heiterem Himmel mit ihrem Rohrstock verteilt. Den Lehrplan, den es anscheinend gar nicht gab.

Die Szenen in Syrien sind rot, Frankreich dagegen ist blau - als ob die Seele Pause machte

Aber auch sein Zuhause ist ihm unerklärlich. Riads Vater ist ein doppelt promovierter naiver Panarabist, der noch nicht merkt, dass er eigentlich schon resigniert hat, und der es sich abends gemütlich macht in patriarchalischer Faulheit und seinem immer gleichen Plan: Riad, sein Sohn, soll eines Tages Medizin studieren. Seine Helden sind Gaddafi, Assad und Saddam Hussein, die stolzen Freiheitskämpfer, die dem Westen die Stirn bieten. Er möchte seiner Familie ein Haus bauen, das aber genauso wenig Gestalt annimmt wie die permanent von ihm versprochene bessere Zukunft, schließlich war damals eigentlich schon klar, dass die vermeintlichen Heilsbringer in Wahrheit nur rücksichtslose Kleindespoten waren.

Riad bekommt im Dunkel der Nacht Geflüster der Eltern mit: Eine Cousine wurde von der Familie ermordet, weil sie unehelich schwanger geworden war. Riads Mutter ist entsetzt und fordert den Vater auf, zur Polizei zu gehen, aber am nächsten Tag wird nicht mehr darüber gesprochen, "ich fragte mich, ob ich ihr Gespräch nicht einfach geträumt hatte." Die Cousine, die da entsorgt worden war, hatte ihm einige Seiten zuvor das Zeichnen beigebracht.

Die Szenen in Syrien sind stets in Rottönen gehalten, die Wände der kahlen Häuser strahlen ein verwaschenes Rosa ab, die unzähligen Schmerzmomente im Schulunterricht sind in grelles Rot getaucht.

Frankreich hingegen ist blau, es ist, als dürfte die Seele in den Ferienwochen, in denen die Mutter mit ihm in die Bretagne fährt, eine Atempause einlegen. Hier wohnt das Glück, und man kann es anfassen, in den Auslagen der Geschäfte, in die sein Großvater ihn jedes Mal führt. Ein Schlaraffenland der Dinge.

In Syrien hingegen erlebt er eigentlich nur einmal wirkliche Schönheit: Als er mit seinen Eltern durch die Tempelanlagen von Palmyra steigt und auf dem Boden Schätze findet, Amphorenreste, Keramik. Heute ist all das vernichtet, Palmyra von den Schergen des IS, Homs von den Angriffen durch Baschar al-Assad, den Diktator von heute, der damals, als Riad hier lebte, Medizin studierte.

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Quelle:
SZ vom 16.02.2016
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