Süddeutsche Zeitung

Tanz:Völlerei, ein einsames Geschäft

Lesezeit: 3 min

Neue Choreografien in Freiburg und Stuttgart erforschen menschliche Abgründe.

Von Dorion Weickmann

Die Welt ist aus den Fugen. Aber der Tanz tut gerne so, als wäre das Schöne, Wahre und Gute zum Greifen nah. Gerade erst wurde der Klassiker "Raymonda" in London und Amsterdam neu aufgelegt, mit viel Geschmack, viel Geld, viel Glanz und Glamour. Es geht darin um Kreuzfahrer, christliche Werte, keusche Jungfrauen und das ganze heilige Brimborium eines Zeitalters, dem der Geist der Aufklärung noch nicht erschienen war. Die Choreografie von 1898 ist grandios, aber passt das opulente Sujet jenseits musealer Bezüge ins 21. Jahrhundert? Wer gesehen hat, wie am Stuttgarter Theaterhaus eine der gewaltigsten Drohkulissen der mittelalterlichen Kirche mit heutigem Tanzwerkzeug zum Einsturz gebracht wird, mag das bezweifeln.

Am Haus auf dem Pragsattel porträtiert Gauthier Dance "The Seven Sins" mit den Mitteln des zeitgenössischen Tanzes. Die gleichen Instrumente kommen tags darauf auch im Freiburger Theater zum Einsatz, wo Gogols "Revisor" gastiert: eine Tour de force, von der kanadischen Tanzmacherin Crystal Pite mit ihrem Ensemble Kidd Pivot in Szene gesetzt. Genau wie das Stuttgarter Todsünden-Mosaik glänzt auch diese Deutschlandpremiere: Stilistische Vielfalt, eigenwillige Handschriften, analytische Schärfe und ästhetischer Reiz gehen hier wie dort Hand in Hand.

Eric Gauthier, der sich von David Finchers infernalischem Kinothriller "Seven" inspirieren ließ, hat das Panorama des Lasters sieben verschiedenen Choreografen anvertraut. Sie haben seiner Truppe zeitgenössische Haute Couture aus feinsten Bewegungsmaterialien auf die wohltrainierten Leiber geschneidert. Den Anfang macht Sidi Larbi Cherkaoui, demnächst Chef des Genfer Balletts, mit der schamlosen Peinlichkeit aller Gier. Halbwegs zivilisierte Figuren verwandeln sich in Marionetten des Mammons, denen Geldscheine zur zweiten Haut, zu Anzug, Kapuze und Schal werden. Ein gründlich korrumpiertes Kollektiv, gefolgt von zwei in Trägheit verstrickten Herren, die Aszure Bartons Choreografie zuletzt mit einer freudlosen Masturbationsszene malträtiert. Da regt sich nix mehr, während die fünf Grazien, die Marcos Moraus "Hochmut"-Episode als Mischung aus malerischen Hodler-Sirenen und erzkatholischen Betschwestern zeichnet, keine Sekunde stillstehen. Arme aufklappen, Schenkel zuscheren, Lippen schürzen: gemeinschaftliches Posieren, als säße die GNTM-Jury im Parkett. Die allerdings noch nie einen derartigen Mix aus Präzision, Perfektion und Perfidie zu Gesicht bekommen haben dürfte.

Sasha Waltz beobachtet Menschen wie unter dem Mikroskop

Die Völlerei ist ein einsames Geschäft und haust, von Marco Goecke inszeniert, im eigenen Körperknast. Hofesh Shechter lässt eine weißgewandete Abstinenzler-Crew an der Wollust nippen, Sharon Eyal verpackt den Neid als elegantes Damentrio, so dekorativ wie unterschwellig aggressiv. Dazwischen liegt der Höhepunkt des Abends, ein Pas de deux von Sasha Waltz. Die Berliner Choreografin beobachtet Menschen wie unter dem Mikroskop und seziert ihr Verhalten mit chirurgischer Akkuratesse. Schonungslos lässt sie zwei Performerinnen aneinander hochgehen, bis der Zorn keine Grenze mehr kennt. Wie die eine die andere lässig abschmettert und deren Wut damit ins Unermessliche steigert, das spiegelt haargenau die Genese und Eskalation von Konflikten - und die Blindheit einer Raserei, deren katastrophale Folgen wir gerade in Mariupol oder Kramatorsk beklagen. Sasha Waltz klagt nicht, und sie klagt nicht an. Aber wir legen die Folie unserer eigenen Erfahrung, unseres Wissens über die Bilder und verbinden sie so mit der Wirklichkeit 2022.

Nicht anders funktioniert Crystal Pites eineinhalbstündiger "Revisor", 2019 entstanden, aber wegen Corona erst jetzt auf Tour und nun zu Gast am Theater Freiburg. Pite ist die Choreografin, die Eric Gauthier seit Jahren für eine Arbeit mit seinem Ensemble gewinnen will, bislang vergebens. Schließlich ist die Einundfünfzigjährige weltweit gefragt, weil sie Narratives bebildern, Abstraktes verhandeln und den Tanz dabei geheimnisvoll leuchten lassen kann. Souverän jongliert Pite auch mit Gogols Enthüllungsfarce um einen Staatsbeamten, der Skandal und Korruption in der Provinz auskundschaften soll, aber in Wahrheit ein Nobody ist. Prompt geht ihm der lokale Potentat samt seinen Kollaborateuren auf den Leim, bis sich die Herrschaften nach allen Regeln einer galligen Komödienkunst entblößt haben.

Pite peitscht die Story mit aller Kraft vorwärts. Aus dem Off kommt der Text, den das live (und hinreißend) tanzende Darsteller-Oktett lippensynchron simuliert. Eine halbe Stunde lang wird der Plot exponiert, dann choreografisch verdichtet und schließlich fertig montiert. Wie bei Gogol prallen die Kleinstädter und der vermeintliche Vertreter des Staatsapparats aufeinander: Hier der moralisch verkommene, machtgierige Direktor nebst notgeiler Gattin und Subalternen, dort der Taugenichts, den das Schicksal herbeigeweht hat. Pite skizziert die Charaktere mit Lust am Boulevardesken und schaut doch in die Abgründe ihrer Seelen. Ein Intermezzo wird zur Psychosession, die menschlichen Müll aufwirbelt, bis verräterische Worte und Satzfetzen fallen: "Massengräber", "Exekutionen". Welche Verbrechen hier unter den Teppich gekehrt werden sollen, ist klar: 1835, das Jahr der "Revisor"-Entstehung, fällt mit unserer blutigen Gegenwart zusammen.

Das Stuttgarter Sünden-Puzzle und der Freiburger "Revisor" sind ein perfektes Match: Beide beleuchten die menschliche Spezies nach dem Sündenfall. Kein schöner Anblick, allen Tanzattraktionen zum Trotz. Aber ein ausgesprochen aufschlussreicher.

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