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Fotograf Harry Callahan in Hamburg:Körper wie Pflanzen

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Ihm lag allein an abstrakter Anmut: Die zahlreichen Rückenakte, die der Ausnahmefotograf Harry Callahan von seiner Frau aufnahm, sagen beispielsweise wenig über ihre Persönlichkeit aus. Denn es ging dem Fotografen lediglich um die formale Bildkunst, die er genauso mit Pflanzen oder Häusern suchte. Eine Gesamtschau in Hamburg zeigt nun sein strenges Werk.

Von Till Briegleb, Hamburg

Nicht jeder gute Fotograf denkt dauernd nur an das Eine. Harry Callahan schon. In einem Dokumentarfilm, der wenige Jahre vor seinem Tod im Jahr 1999 entstand, erzählt seine Frau Eleanor, dass ihr Mann sie schon mal mitten beim Kochen bat, sich sofort auszuziehen. Das Licht sei gerade so gut. Also entkleidete sie sich, posierte einige Minuten und kehrte dann zurück zum Herd. Denn ihr Mann dachte immer nur an das gute Bild. Und seine "Verrücktheit für die Kamera", wie er es selbst nannte, ging so weit, dass er damit nicht einmal Geld verdienen wollte. Er wollte nicht arbeiten, er wollte einfach nur fotografieren.

Mit dieser Besessenheit war Harry Callahan der Prototyp eines Künstlerfotografen, allerdings zu einer Zeit, als die Bedeutung von Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel in den USA höchstens in New York halbwegs durchgesetzt war. Bis in die achtziger Jahre hinein gab es in Amerika nur drei auf Fotografie spezialisierte Galerien. Wer mit dem Fotoapparat Geld verdienen wollte, tat das entweder als Magazin- oder Werbefotograf oder als Dozent. Callahan entschied sich für die Lehre und vermied es so, Kompromisse zwischen Beruf und Passion eingehen zu müssen.

Das Werk, das aus dieser sechzigjährigen Leidenschaft resultiert, und jetzt in einer großen Überblicksschau mit 280 Bildern in den Hamburger Deichtorhallen gezeigt wird, steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu Callahans Obsession - es sieht überhaupt nicht leidenschaftlich aus.

Die innere Hochspannung dieses Ausnahmefotografen verwandelt sich in seinen Experimenten in abstrakte Anmut. Callahans Sympathie galt den formalen Möglichkeiten der Fotografie weit mehr als den erzählerischen oder dokumentierenden, die dieses Genre eigentlich bestimmen. Und das betrifft selbst die Abbildung seiner intimsten Umgebung, die er schon früh zu einem der wichtigsten Gegenstände seiner fotografischen Betrachtung machte: seine Frau Eleanor.

Ob es sich um die zahlreichen Rückenakte handelt oder um ihre Positionierung als kleine Figur in Stadt- und Naturlandschaften - über die Persönlichkeit seiner lebenslangen Partnerin sagen Callahans Aufnahmen fast nichts aus. Die Ehefrau und später auch ihre gemeinsame Tochter Barbara dienen in den strengen Kompositionen Harry Callahans ebenso der Abstraktion von Körpern wie die Pflanzen oder Häuser, denen er auf seiner Suche nach formaler Bildkunst gleichfalls große Aufmerksamkeit widmete.

Menschen und ihre Sorgen und Sehnsüchte schleichen sich höchstens mal in den Vordergrund, wenn es die selbst gesetzten Spielregeln für ein neues Serienkonzept erlauben, etwa in den Schnappschüssen von Passantinnen in Untersicht, die Callahan 1961 auf der State Street in Chicago aufnahm: arbeitsam verhärmte Frauen mit ernst gesenkten Brauen und langen Mänteln.

Aber auch bei dieser scheinbaren Sozial-Dokumentation geht es Callahan offensichtlich mehr um die sehr ungewöhnliche Perspektive aus Kniehöhe, durch die diese erstarrten Monumente eines städtischen Proletariats sich auf Augenhöhe mit den Wolkenkratzern der Stadt befinden.

Callahan, der in den Dreißigern in seiner Geburtsstadt Detroit zunächst bei Chrysler arbeitete und sich das Fotografieren selbst beigebracht hatte, rezipierte wie jeder gute Autodidakt große Vorbilder, zu denen er auch bald in persönlichen Kontakt trat.

Die Objekt- und Lichtexperimente von László Moholy-Nagy (der Callahan später seine erste Lehrstelle in Chicago besorgte) standen ebenso am Beginn seiner Auseinandersetzung mit fotografischen Wirkungsweisen wie die überwältigende Klarheit der amerikanischen Landschaftsfotografie von Ansel Adams. Aber auch die atmosphärischen Porträts der Großstadtarchitektur von Alfred Stieglitz und anderen New Yorker Fotografen haben ihre Spuren in Harry Callahans ästhetischem Formalismus hinterlassen.

Die Lehren des Bauhaus und der russischen Konstruktivisten von einer kontraststarken neuen Objektabstraktion in der Fotografie, sowie die durchaus romantische Weltsicht der amerikanischen Realisten verband Callahan bald zu einer persönlichen Sichtweise, die er gleichermaßen auf die Darstellung der Stadt, der Natur und der Ehefrau übertrug.

Besonders Gräser - seit Walt Whitmans gleichnamigem Gedichtzyklus ein nationaler us-amerikanischer Topos - hat Callahan immer wieder für Inszenierung von Strukturen benutzt. Stark über- oder unterbelichtet staken sie wie feine Risse aus dem Schnee, ergeben fellartige Flächen und gegliederte Muster oder sie bilden eine Schicht für die Mehrfachbelichtungen, mit denen Callahan ab den Vierzigern surreale Vieldeutigkeit produzierte.

Objekte, Landschaften, Stadtansichten und die nackte Eleanor blendete er so übereinander, dass eine rätselhaft undurchdringliche neue Bildwelt entstand, in der keine Ebene die andere dominiert.

Überhaupt war Harry Callahan von Anfang seiner fotografischen Arbeit in den vierziger Jahren an intensiv damit beschäftigt, die technischen Möglichkeiten der Fotografie experimentell auszureizen. Er bewegte die Kamera mit offener Linse über Neonreklamen und schuf so strudelige Lichtlinienbilder oder fotografierte mit Langzeitbelichtung Reflexionen auf dem Wasser.

Seine ersten Stadtansichten addierten Schnappschüsse von Autos, Fenstern und Stadtschluchten zu Motivmustern. Die verwirrende Ineinanderblendung von Straßenszenen und Auslagen, die spiegelnde Schaufensterscheiben verursachen, faszinierten Callahan ebenso wie Collagen aus Magazingesichtern.

Diese extreme Vielseitigkeit machte Harry Callahan schnell zu einem der berühmtesten Fotografen in Fachkreisen, versagte ihm aber gleichzeitig den Ikonenstatus, den Kollegen erhielten, die stilistisch eindeutiger zu erfassen waren.

Obwohl sich Callahan sein Leben lang ausschließlich mit Strukturen und dem abstrakten Bildaufbau beschäftigt hat, wechselte er ständig die Methoden und den Fokus und erprobte zudem die unterschiedlichen Potenziale von Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografie. In Dörfern und Kleinstädten Irlands konzentrierte er sich auf extreme Fluchtperspektiven, am Meer in Marokko, Hawaii und Cape Cod auf das Panorama strenger Horizontalität und im Häusermeer amerikanischer und asiatischer Großstädte interessierte er sich für die Staffelung von Gebäudekörpern und das vertikale Streben der Architektur.

Im Prinzip erkundete Harry Callahan erneut die Emanzipation der europäischen Künstleravantgarden vom realistischen Stil, die schließlich in der reinen Ungegenständlichkeit mündete, mit dem Fotoapparat. Und weil er sich dabei keine Grenzen auflegte, sind seine unermüdlichen Expeditionen ins Reich der Abstraktion auch nur im Ganzen einer solchen Retrospektive in ihren persönlichen Motiven begreifbar.

Dass der Mensch in dieser Betrachtung nur als gleichrangiges Objekt zu Fassaden, Farnen und Fernleitungen vorkommt, nämlich primär in seiner grafischen Qualität, lässt dieses komplexe Werk zuweilen auch etwas blutleer erscheinen. Aber das passiert halt leicht, wenn ein Mann immer nur an das eine denkt.

Harry Callahan - Retrospektive. Bis zum 9. Juni im Haus der Photographie, Hamburg. Der Katalog kostet 49,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2013
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