Süddeutsche Zeitung

Filmfestival:Stammplätze

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In Cannes eröffnen die 69. Filmfestspiele: Ein Spektakel der Erwartungen und Enttäuschungen, wo die Vorfreude der größte Kick ist und die Hoffnung nie stirbt.

Von Tobias Kniebe

Ganz gleich wie gut die Filme dann werden, noch besser ist die Vorfreude. Wenn Plakate, Trailer und erste Szenenfotos schon da sind, aber mehr eben noch nicht - dann ist Cannes jedes Jahr wieder ein Festival der unvorstellbaren Meisterwerke, nach denen nichts mehr so sein wird wie zuvor. Und genau dieses Gefühl, man muss es so sagen, ist der Kick.

Die vielen greisen Filmkritiker, im weit fortgeschrittenen Rentenalter, die jedes Jahr wieder ihre Inkontinenzwindeln umschnallen und sich auf ihre immer gleichen, durchgesessenen Stammplätze ins Grand Théâtre Lumière schleppen, sind wie alle hier auf der Suche nach diesem Kick. Schon immer, und immer noch. Und sie sind darauf hängengeblieben. Sie schimpfen zwar gern darüber, wie schlecht die Filme geworden sind, an ihrer wahnsinnigen Vorfreude - und ihrer lebenslangen Sucht - ändert das aber rein gar nichts.

Und ehrlich gesagt sind sie heimlich auch schon zufrieden, wenn es so gut wird wie ... hach, nehmen wir irgendein gutes Jahr aus der langen Geschichte des Festivals. Wenn Woody Allen mit seinem Eröffnungsfilm "Café Society" wieder in seiner besseren, vor allem aber seiner amerikanischen Form ist, denn diesmal geht es ihm gewissermaßen um die Hipster der Dreißigerjahre, in Hollywood und in der Bronx. Oder Pedro Almodóvar, der könnte ja wieder mal einen tollen Frauenfilm liefern, sein "Julieta" ist ein Mutter-Tochter-Drama nach Alice Munro, da steckt doch alles drin, was der Mann für seine Bestform braucht. Genauso werden die Dardenne-Brüder aus Belgien mit "La fille inconnue" sicher wieder überzeugend vom Überlebenswillen der Zukurzgekommenen erzählen, ein Thema, das schon ihr ganzes Werk bestimmt, ebenso wie der aufrechte Sozialist Ken Loach, der eben nicht - wie fälschlich berichtet - in Rente gegangen ist, sondern mit "I, Daniel Blake" einfach eisern weitermacht, diesmal mit dem Überlebenswillen der Verlierer in Nordengland. Die Regisseurin in der Runde, die am ehesten in seine Fußstapfen tritt (Andrea Arnold mit "American Honey") war diesmal wiederum in den USA unterwegs.

Das Gefühl eines Familientreffens, bei dem alle Onkel und Tanten immer dieselben Geschichten erzählen, dabei aber im besten Fall auch tolle und sehr unterhaltsame Charaktere sind - es stellt sich in Cannes jedes Jahr unweigerlich ein. Der Kanadier Xavier Dolan hat dabei den Part des schwulen, exzentrischen, aber natürlich hochbegabten Sohns, und mit "Juste La Fin Du Monde" wird er bestimmt wieder das hochtourige Drama liefern, das alle von ihm erwarten; diesmal aber wird er auf einen zweiten hochbegabten Sohn treffen, den ebenfalls schwulen Franzosen Alain Guiraudie mit "Rester Vertical". Der ist neu im Wettbewerb, das könnte ein Kampf werden, oder auch die totale Verbrüderung.

Jim Jarmusch, der coolste Onkel von allen, wird mit "Paterson" wie immer recht wortkarg, hoffentlich aber stellenweise auch saulustig sein - und außerdem hat er noch einen selbstgemachten Konzertmitschnitt von Iggy Pop dabei. Der rumänische Teil der Familie, diesmal mit Christi Puiu ("Sieranevada") und Christian Mungiu ("Bacalaureat") stark vertreten, ist eher unberechenbar; bei diesen Geschichten lacht man sich entweder tot, oder man will sich die Kugel geben, manchmal auch beides zugleich. Von der iranischen Verwandtschaft (Asghar Farhadi) erwartet man dagegen die Schilderung von Eheproblemen, die unheimlich erwachsen durchdrungen sind, der intellektuelle Pariser (Olivier Assayas) wird wie immer von Kristen Steward und von Hollywood fasziniert sein, während die Erzählungen aus Manila (Brillante Mendoza) bis nach dem Nachtisch warten müssen, weil sie regelmäßig derart von Blut triefen, dass sich allen der Magen umdreht. Und so fort.

Am spannendsten aber, und da werden dann auch die greisen Filmkritiker wieder hellwach, sind die großen Unbekannten, bei denen noch alles möglich ist. Und zu denen muss auch Maren Ade aus Berlin gezählt werden, die zwar zum ersten Mal in Cannes ist, mit "Toni Erdmann" aber auf Anhieb am Wettbewerb teilnimmt - und damit eine achtjährige Durststrecke der Missachtung für die Deutschen beendet. Es soll um einen wilden Vater gehen, der seine verkrampfte Karrieretochter mit Streichen bombardiert und damit so richtig locker machen will, gespielt von Peter Simonischek und Sandra Hüller. Das tolle Plakat aber - eine blonde Frau von hinten, fast vollkommen in den Armen eines schwarzfelligen Monsters vergraben, von dem man nur das Fell sieht - suggeriert noch mehr. Nämlich mindestens ein Märchen von der Schönen und dem Biest, wenn nicht gar von King Kong.

Zu diesem weiblichen Joker gesellen sich dann noch drei Bad Boys, von denen man entweder das Schlimmste oder das Beste befürchten muss, nur nichts zwischendrin: Sean Penn, Nicholas Winding Refn und Paul Verhoeven. Penn arbeitet seit Jahren für sich persönlich an der perfekten Verbindung von Entwicklungshilfe und Posertum, und da sein Film "The Last Face" von Entwicklungshelfern handelt, darf man gespannt sein. Refn wiederum arbeitet seit "Drive" an einer alternativen Wirklichkeit, in der Los Angeles eine glitzernde Neonmetropole ist, und das setzt er mit seinem Vampirfilm "The Neon Demon" nun einfach fort. Paul Verhoeven schließlich, seit "Basic Instinct" und "Showgirls" so etwas wie Hollywoods zertifizierter Sexmaniac, war zehn Jahre ganz verstummt. Für "Elle" hat er jetzt erstmals auf Französisch gedreht, mit Isabelle Huppert. Es geht um Vergewaltigung und Rache, aber Verhoeven hat da schon selbst eine Art Sicherheitslinie eingezogen. Einen "erotischen Film" würde er das Ganze eher nicht nennen.

Soll man das glauben? Die greisen Kritiker auf ihren Stammplätzen glauben es wohl eher nicht, und damit verbinden sie natürlich auch Hoffnungen. Die Hoffnung nämlich stirbt in Cannes auch dann noch nicht, wenn sie überall sonst schon vollständig erloschen ist. Auch darin besteht ja der Kick. Sollte so ein Stammplatz, auf dem jahrzehntelang derselbe Mensch gesessen hat, also diesmal plötzlich verwaist sein - dann wissen alle, was die Stunde geschlagen hat. In der Welt der Kritiker gab es einen Todesfall.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2016
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