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"Der Distelfink" im Kino:Dieser Blick ist hundert Seiten wert

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John Crowley hat Donna Tartts Weltbestseller "Der Distelfink" verfilmt und beweist: Die Kraft des Kinos behauptet sich gegen alle Serien-Seligkeit.

Von Fritz Göttler

Ein echtes Glück gibt es nur am Rand der Welt. Zwei Jungen hocken auf einfachen Schaukeln nebeneinander, es ist Abend, und wenn sie hin und her gleiten, blitzt zwischen ihnen die untergehende Sonne durch. Eine frisch gebaute Siedlung am Rand der Wüste vor Las Vegas, so abgelegen, dass niemand dort einziehen und leben mag. Eine Geisterstadt, grenzenlose Einsamkeit, aber auch wohltuende Unabhängigkeit. Theo und Boris, zwei lost boys, die sich gefunden haben, herrlich verkörpert von Oakes Fegley und Finn Wolfhard (sein Boris ist eine Art amerikanisches enfant sauvage).

Peter Pan, sagt die Schriftstellerin Donna Tartt, stecke in jedem der Romane, die sie geschrieben habe, das sei eins der wichtigen Bücher ihrer Jugend gewesen: eine Droge, ein eigener Bewusstseinszustand. Das Bild der beiden Buben im Abendlicht konzentriert im Film, worum es in Tartts Bestseller "Der Distelfink" - 2013 erschienen, von Millionen begeistert gelesen, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet - geht. Ein Buch von Trauer, Verlust, Verzweiflung, Schuldgefühl. Verlorenheit. Das Bild dauert wenige Sekunden, aber es ist Hunderte Seiten wert. Es ist einer der Momente, wo die Verfilmung von John Crowley auf die Kraft des Kinos vertraut.

Theo hat, wenn die Jungen so beisammensitzen, schon eine Reihe von leidvollen Abschieden hinter sich. Mit seiner Mutter war er eines Nachmittags im New Yorker Metropolitan Museum of Art, in einer Ausstellung großer niederländischer Malerei. Die Mutter hat ihm erklärt, was sie an den Gemälden bewegt und fasziniert, von Rembrandts "Die Anatomie des Dr. Tulp" bis zum "Distelfink" des Rembrandt-Schülers Carel Fabritius. Dann ist die Mutter Opfer eines Terroranschlags geworden, und im Trümmerchaos danach nimmt Theo den von der Wand gestürzten "Distelfink" mit und hält ihn jahrelang versteckt. Das Bild gilt als vermisst.

"Der Distelfink" lebt mehr von traumatischen Impressionen als von einer konsequenten Intrige

Nach dem Tod der Mutter wird Theo in die Familie eines Freundes aufgenommen, die neue Mutter ist die stilvolle Park-Avenue-Matrone Nicole Kidman. Als er hier heimisch zu sein scheint, kommt sein richtiger Vater, Luke Wilson, der ihn in sein Haus am Rand von Las Vegas holt. Er will natürlich an Theos Geld ran. Da kann nur Boris helfen und seine Anarchie.

Man hätte den "Distelfink" nicht in zweieinhalb Kinostunden pressen dürfen, haben amerikanische und britische Kritiker moniert, hätte ihm die Chance geben müssen, sich in einer Fernsehserie zu entfalten - der heute übliche kurzsichtige Blick, der die Unterschiede zwischen den Medien nicht wahrhaben will. Natürlich gehört der "Distelfink" auf die Leinwand, ein Roman, der mehr von traumatischen Impressionen lebt als von einer konsequenten Intrige.

Der Film verliert Kraft, sobald in die Geschichte von Theo und Boris immer mehr Liebe und Kriminalität eindringen und die beiden jungen Akteure ersetzt werden durch die älteren Ansel Elgort und Aneurin Barnard. Wenn auf einmal große Fragen verhandelt werden - ob das ein Verbrechen sei, ein solches Bild wie den "Distelfink", das der Menschheit gehört, einzusperren. Genau dies wird Theo vorgeworfen von dem passionierten Antiquitätenhändler Hobie, der den Jungen einst lehrte, wie echte Kunst sich anfühlt, durch Berührung und Betasten.

Wenn der kleine Theo im Museum neben der Mutter erstmals vor dem "Distelfink" steht, blitzt ein schalkhaftes Interesse in seinen Augen auf, fast diabolisch. Auch dieser Blick ist gut hundert Seiten Roman wert.

The Goldfinch, 2019 - Regie: John Crowley. Buch: Peter Straughan. Nach dem Roman von Donna Tartt. Kamera: Roger Deakins. Schnitt: Kelley Dixon. Musik: Trevor Gureckis. Mit: Ansel Elgort, Oakes Fegley, Nicole Kidman, Jeffrey Wright, Luke Wilson, Sarah Paulson . Warner, 149 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2019
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