Süddeutsche Zeitung

Serie "Stimmen der Demokratie":Das Ende der Geschichte? Das Ende der Demokratie!

Lesezeit: 4 min

Wenn eine Gesellschaft keine konkurrierenden Versionen der Zukunft mehr entwerfen kann, fühlt sie sich machtlos und stagniert. Eine Ansprache zur Lage der Demokratie.

Gastbeitrag von Timothy Snyder

Im Herbst 1940 bat der britische Radiosender BBC den deutschen Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, in seinem kalifornischen Exil kurze Radiovorträge zu verfassen, die nach Nazi-Deutschland gesendet wurden . 55 Ansprachen verfasste Mann bis Kriegsende. Der Trägerverein der Begegnungsstätte Thomas-Mann-House in Los Angeles hat die Idee der Radioansprachen wieder aufgenommen und veranstaltet eine Reihe mit Ansprachen für die Demokratie, die die SZ abdruckt und der Deutschlandfunk sendet.

Timothy Snyder ist Historiker an der Yale University und ständiger Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Zuletzt erschien von ihm "Der Weg in die Unfreiheit: Russland, Europa, Amerika" im Verlag C. H. Beck.

Wo ist sie nur hin, die Zukunft? Ob wir nun über die USA, Europa oder große Teile der restlichen Welt sprechen: Die Zukunft ist verschwunden. Dabei ging es in den vergangenen paar Hundert Jahren in Demokratien meist genau um sie. Wir sind als Gesellschaft sehr versiert darin, verschiedene, konkurrierende Versionen der Zukunft zu entwerfen - die Aufgabe der Demokratie liegt darin zu entscheiden, welche dieser Zukunftsvisionen eintreten soll.

Heute ist die Demokratie genau deshalb in Gefahr, weil die Zukunft nicht mehr existiert. Wenn wir uns nicht mehr vorstellen können, was noch kommt und welcher Zukunftsentwurf besser sein könnte, dann fühlen wir uns politisch machtlos und gehen vielleicht nicht einmal wählen.

Die Demokratie braucht die Zukunft, ja, sie kreiert sie. Wenn wir fest daran glauben, dass unsere Stimme zählt und jede noch so kleine Partizipation einen Unterschied macht, gestalten wir in unseren Köpfen ein Zukunftsbild, das eine Wechselwirkung zwischen der Demokratie und unserem Zeitverständnis entstehen lässt.

Wenn wir unsere Demokratie wiederhaben wollen, liegt der erste Schritt daher darin, an die Zukunft zu denken. Uns in die Zukunft hineinzudenken. Uns zu überlegen, wie wir die Zukunft zurück in die Politik bringen.

Der Ursprung unserer Probleme sind nicht die Diktatoren und autoritären Herrscher der Gegenwart, sondern die vor ungefähr einer Generation, im Jahr 1989, entstandene Vorstellung vom Ende - oder der Alternativlosigkeit - der Geschichte. Diese Weltsicht ging davon aus, dass genau ein geschichtlicher Ausgang möglich sei, der automatisch eintrete und im Grunde gutzuheißen sei. Ich nenne das die "Politik der Unvermeidlichkeit".

Die logische Schlussfolgerung dieses Narrativs, das von den Neunzigerjahren bis in die frühen 2000er überdauerte, lautet, dass alle anderen mit der Zeit zunehmend so werden wie wir. Dass wir zunehmend werden wie wir. Dass Demokratie unvermeidlich ist. Aber die Politik der Unvermeidlichkeit hat ausgedient. Beinahe die ganze Welt, ob Amerika oder Europa, ist an einem neuen Punkt angelangt, an dem die Menschen nicht mehr daran glauben, dass Demokratie unvermeidlich ist. In den USA und anderswo ist sie, allgemein gesprochen, auf der Verliererstraße.

Stattdessen hat sich das Gefühl eingestellt, dass sich mithilfe antidemokratischer Argumente Wahlen gewinnen lassen. Diesen Moment des Schreckens, in dem niemand wirklich von der Zukunft spricht, in dem sich alle gegenseitig an die Kehle gehen und in einer Gegenwart des "Wir gegen die" gefangen sind, nenne ich die "Politik der Ewigkeit".

Wir sind an diesem Punkt angekommen, weil eine "Politik der Unvermeidbarkeit" falsch ist. Sie glaubt daran, dass der Kapitalismus alle erdenklichen Probleme lösen kann. Sicher, der Kapitalismus macht vieles richtig, aber wenn man ihn zügellos gewähren lässt, führt er, wie etwa in den USA und in Großbritannien, zu dramatischer Ungleichheit.

Ausgegangen von einem Zukunftsbegriff - demjenigen des Kapitalismus, der Demokratie, Technologie und Aufklärung in Zukunftskonzepte bringen muss - sind wir nun an dem Punkt angekommen, an dem wir überhaupt nicht mehr von der Zukunft sprechen.

Unsere Ära der Katastrophen will uns einreden, dass wir nichts tun können

Der nächste Schritt könnte sehr düster sein. Wir haben die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Eine ist negativ und beängstigend, die andere positiv und einladend. Der nächste Schritt - wir können ihn schon jetzt sehen - ist eine Art "Politik der Katastrophe". Sie kennt sehr wohl eine Zukunft, allerdings eine sehr trostlose. Die Rede ist von der Erderwärmung. Indem uns die "Politiker der Ewigkeit" von der Zukunft abwenden, machen sie uns auch blind für die realen Probleme, um die wir in Zukunft nicht herumkommen werden. "Politiker der Ewigkeit" sind oft Klimawandelleugner oder glauben sogar daran, dass der Klimawandel etwas Gutes sei.

Ergreifen wir keine Maßnahmen gegen die Erderwärmung, so bedeutet das die Rückkehr einer negativen, dunklen Zukunft. Sie würde uns in eine Katastrophenstimmung treiben, die Demokratie unmöglich macht. Das also wäre die eine Möglichkeit, und man kann durchaus sagen, dass sich die Politik der Zeitlichkeit bereits in diese Richtung bewegt.

Aber in all dem steckt auch eine gute Nachricht.

Weil wir wissen, dass die Zukunft wichtig für die Demokratie ist, und weil wir wissen, dass wir die Zukunft verloren haben, wissen wir auch, was wir tun können, um die Demokratie zurückzuerlangen. Ich nenne das die "Politik der Verantwortlichkeit". Wir können Strategien erarbeiten, die uns unser Zukunftsgefühl zurückgeben.

Wenn es zum Beispiel stimmt, dass Ungleichheit zu Hoffnungslosigkeit führt, dann müsste ein aufgefrischter Sozialstaat umgekehrt zu sozialer Mobilität und somit zu einer Vorstellung von der Zukunft führen. Wenn es stimmt, dass das Internet uns festschraubt und mithilfe unserer eigenen Emotionen gefangen hält - was es tut -, dann kann eine Überarbeitung der sozialen Netzwerke oder schlicht die Reduktion unserer Onlinezeiten dazu führen, dass wir mehr Energie haben, um uns verschiedenen Vorstellungen von der Zukunft zu widmen. Und wenn es stimmt, dass die Angst vor dem Klimawandel die Menschen davon abhält, in die Zukunft zu blicken, dann können uns Maßnahmen gegen den Klimawandel Hoffnung geben. Diese drei Dinge sind wahr. Hoffnung existiert.

Wenn wir es schaffen, uns unsere Zukunft vorzustellen, können wir sie auch mit politischen Mitteln erreichen. Wir können in die Zukunft eingreifen und sie zu einem besseren Ort machen.

Das ist der Schlüssel. Sobald wir den Gedanken hegen, dass die Zukunft nicht nur anders, sondern viel besser sein könnte als die Gegenwart, befinden wir uns auf dem besten Weg dahin, uns in eine starke Demokratie zurückzudenken. Wenn wir eine Zukunft imaginieren können, in der wir Fortschritte machen, dann führt das zu einer positiven Rückkopplung. Eine, in der die Zukunft nicht nur existiert, sondern eine gute ist.

Anders formuliert: Um die Welt steht es schrecklich. Aber zumindest in einer Hinsicht nicht so schlecht, wie es scheint: Es gibt eine Zukunft. Dort hinzugelangen und sicherzustellen, dass es eine gute Zukunft wird, ist nicht so schwer, wie viele vermuten. Unsere aktuelle Grundstimmung, die "Politik der Ewigkeit", die sich gerade zur Ära der Katastrophen wandelt, will uns einreden, dass wir nichts tun können, dass wir in einem Trott verfallen sind. Doch nur ein paar kleine Siege, ein paar Veränderungen können uns wieder davon überzeugen, dass Demokratie genau der richtige Weg nach vorn ist.

Aus dem Englischen von Cornelius Dieckmann.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2019
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