Süddeutsche Zeitung

Colson Whitehead: "Harlem Shuffle":Herz der Stadt in Flammen

Lesezeit: 4 min

In Colson Whiteheads "Harlem Shuffle" ist der tiefe Ernst früherer Romane verspielten Geschichten über Kampf und Konsum des schwarzen New York gewichen.

Von Sonja Zekri

Die große Stadt New York wird durch Geld am Laufen gehalten, durch Umschläge, die von Hehlern zu Cops zu Nutten zur Mafia wandern. Sie wird durch den Kreislauf der Waren am Laufen gehalten, durch Gier und durch Hass. Und manchmal auch durch ein Eiersalat-Sandwich. Dass der weiße Polizist Munson für den schwarzen Gelegenheitsdealer und Möbelhändler Ray Carney einen Zuhälter aus dem Weg räumt, erklärte sich beispielsweise durch einen gestohlenen Lunch. Ein Polizistenfreund des Zuhälters hatte Munson irgendwann ein Eiersalat-Sandwich aus dem Kühlschrank geklaut, was nun eine großräumige, weit über Harlem hinausreichende Bewegung in Gang setzt.

In Colson Whiteheads Roman "Harlem Shuffle" ist die Eiersalat-Sache eine von vielen Nebengeschichten. Mit Harlem hat der Roman einen epischen Titelhelden, mit dem kriminellen Möbelhändler Raymond Carney einen originellen Protagonisten. Aber wer nicht wenigstens ein bisschen Sinn für barocke Milieuschilderungen hat, für intelligentes Namedropping und labyrinthische Plots, der könnte Whiteheads Buch versponnen finden oder verspielt, vielleicht sogar ein wenig eitel.

Ganz sicher jedenfalls ist es kilometerweit entfernt vom tödlichen Ernst des Sklaven-Epos "Underground Railroad", das Whitehead den Pulitzer-Preis einbrachte, oder vom Realismus der "Nickel Boys". Wenn man diese Bücher als Verzweiflungsschreie in den Trump-Jahren begreifen will, dann ist "Harlem Shuffle" das Buch für die Biden-Ära.

Möbel, Kleidung oder Autos sind nicht Symbole des Untergangs, sondern der Befreiung

Wie die "Nickel Boys" spielt auch "Harlem Shuffle" in den Sechzigerjahren. Nur beschreibt Whitehead in den fünf Jahren zwischen 1959 und 1964 zwar eine Überhitzung durch die Bürgerrechtsbewegung und die Rassenunruhen, aber eben auch durch urbanen Fortschritt. Dieses Harlem ist nicht mehr die stickige Kloake aus Anne Petrys "Die Straße", sondern ein Konsumuniversum mit neuen Fast-Food-Restaurants und Plattenläden. Schier endlos kann Ray Carney von elegant geschwungenen Tischbeinen und makellosen Sattlernähten schwelgen, von den Vorzügen chemisch behandelter Bouclé-Polster und versteckten Cocktail-Fächern. Andächtig wie einen Rosenkranz zelebriert er die Namen der Interieurmarken. Collins Hathaway. Argent. Bella Fontaine.

Durch diese sprachliche Komplettmöblierung wirkt der Text manchmal etwas verstopft, zumal nicht alle Namen deutschen Lesern geläufig sein dürften. Andererseits ist die Feier amerikanischer Kaufkraft für Whitehead nichts Neues. Der Zombie-Roman "Zone One" beispielsweise ließ die zerfledderte Fülle der Warenwelt noch im fahlen Glanz der Apokalypse aufscheinen. In "Harlem Shuffle" liegen die Dinge anders, Möbel, Kleidung oder Autos sind nicht Symbole des Untergangs, sondern der Befreiung. Wer sich eine Sitzecke aus einem weißen Geschäft leisten kann, der hat es geschafft. Der Kapitalismus als Motor der Emanzipation, frei nach dem alten amerikanischen Credo: "Wir tun Wunder, wir tun Unrecht, und wir legen nie die Hände in den Schoß."

Anfangs stehen die Zeichen durchaus günstig, dass Carney Frau und Kinder auf ehrliche Weise durchbringen kann. Zwar vergeht kein Besuch seiner Schwiegereltern, bei dem sie ihn nicht spüren ließen, dass sie sich für ihre Tochter einen solventeren, gebildeteren, hellhäutigeren Mann wünschten, dabei ahnen sie nicht mal etwas von seinen Hehlereien. Immerhin ist er kein "krummer Hund" wie sein Vater, der gefürchtete Kriminelle. Ein gestohlenes Halsband hier, ein Radio dort, damit hätte sich Carney durchaus zufriedengegeben, hätte Cousin Freddy, der ewige Unglücksrabe, nicht das Hotel Theresa ausgeraubt.

Whitehead zitiert Hardboiled-Literaten wie Dashiell Hammett oder James Ellroy, und es ist mehr Verneigung als Appropriation

Ausgerechnet das Theresa, wo die Rassentrennung 1940 aufgehoben wurde und die Prominenz aus Musik und Film absteigt, das Theresa, der "Mittelpunkt der schwarzen Welt": "Die Bigband betrat die Lobby in Hepcat-Formation, hintereinander, als erschienen sie auf der Bühne, denn dieser Auftritt war ebenso sehr ein Gig wie jedes ihrer abendlichen Konzerte, eine Zurschaustellung von Glamour, eine Bekräftigung schwarzer Exzellenz." Das Theresa auszurauben war so, "als würde man gegen die Freiheitsstatue pinkeln".

Entsprechend dramatisch sind die Folgen. In drei Schritten entfaltet Whitehead das Panorama einer Welt, in der schwarze Gangster mit Namen wie Chink Montague oder Chet the Vet die Messer schwingen und noch die Arrivierten, die schwarzen Richter, Bauunternehmer und Politiker, bis zum Hals im Dreck stecken. Der Bankier Wilfred Duke lässt sich von Carney bezahlen, damit er ihn im noblen Dumas-Club unterbringt, aber dann erweist er sich als Betrüger im großen Stil, als das "weiße System hinter einer schwarzen Maske", was ihm Carney, dann doch Sohn seines Vaters, auf effektive, dabei völlig unblutige Weise heimzahlt.

Whitehead ist ein blendender Unterhalter. Leichthändig spielt er mit Stil und Tempo. Er zitiert Hardboiled-Literaten wie Dashiell Hammett oder James Ellroy, Film Noir und Tarantino, und das ist mehr als eine Verneigung, mehr als Appropriation. Einmal steht Carney vor dem Maharaja-Kino, wo Filme über jugendliche Straftäter "mit zornigen weißen Jungs" in der Hauptrolle laufen, und er ärgert sich: "Über ihre dunkelhäutigen Harlem-Versionen wurden keine Filme gedreht." Die Kulturgeschichte, auch die Geschichte der Stadt New York, ist noch immer vor allem eine der Weißen, auch wenn in jüngster Zeit mehr schwarze Autoren verlegt werden. Eine Aufgabe von "Harlem Shuffle" besteht darin, die Lücke zu schließen. Sofort ergeben sich neue, differenzierte Perspektiven, etwa auf die Proteste von 1964. Nachdem ein weißer Polizist einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschossen hat, steht Harlem in Flammen. Carney, einerseits genauso erbittert wie alle Schwarzen, ist vor allem Geschäftsmann und hält von der Randale gar nichts.

Außerdem hat sich Freddy mit einem schwulen weißen Junkie namens Linus Millicent Percival Van Wyck eingelassen, der aus einer ebenso reichen wie verkommenen Familie stammt. Diesen Weißen geht es nicht um Kinkerlitzchen, nicht um Juwelen-Colliers oder geklaute Stereoanlagen. Sie drehen das ganze große Rad, sie greifen nach der Stadt selbst. Insofern ist es nur logisch, dass Carney am Ende vor der Baustelle eines spektakulären Gebäudes namens World Trade Center steht. Er, der unerschrockene Wanderer zwischen der schwarzen und der weißen Welt, zwischen Legalität und Verbrechen, wird auch im neuen Harlem, im neuen New York sein Ding machen. "Schwarze fanden immer einen Weg", schreibt Whitehead, "wenn nicht, hätte der weiße Mann sie schon längst ausgerottet." Womöglich ist robuster Pragmatismus für das Überleben doch wichtiger als ein neues Sofa.

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