Süddeutsche Zeitung

Proteste in Hongkong:"Es fühlt sich an wie bei Orwell"

Lesezeit: 4 min

Der Widerstand in Hongkong erinnert aus der Ferne an den Aufruhr von 2014. Aber das täuscht. Und dieser Unterschied bedeutet nichts Gutes für die Menschen in dieser Stadt.

Gastbeitrag von Evan Fowler

Die Proteste diese Woche in Hongkong gegen das umstrittene Auslieferungsgesetz der Regierung und die harte Reaktion der Polizei am Mittwoch haben das Volk von Hongkong erschüttert. Und doch lief der Tag genauso ab wie erwartet.

Die Polizei setzte ihr ganzes Arsenal ein: Schlagstöcke, Pfefferspray, Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse. Die Protestierenden, zumeist Jugendliche, trugen Gesichtsmasken, Brillen und Regenschirme zu ihrem Schutz. Beide Seiten haben damit gerechnet, dass es zur Eskalation kommen würde. Die harte Linie der Regierung zeichnete sich schon mit den Erklärungen von Regierungschefin Carrie Lam ab: Sie hatte nach dem Protestmarsch von einer Million Menschen am Sonntag klar zu verstehen gegeben, dass sie weiter an dem Gesetz festhalten würde. Einem Gesetz, das erstmals die Auslieferung von Hongkonger Bürgern an die Behörden Festlands-Chinas ermöglichen würde.

Und dennoch versammelten sich die Menschen beim Regierungsgebäude in Central, einem Gebäude, das der Stadt nach ihrer Rückkehr zu China 1997 zum Symbol wurde für das Versprechen einer offeneren postkolonialen Regierung und für das zwischen China und Großbritannien ausgehandelte Prinzip: Hongkonger regieren Hongkong. Die Stadt, so hieß es damals, dürfe ihre Autonomie noch 50 weitere Jahre behalten. Aber Geschichte verläuft selten nach Plan.

Die Proteste drehen sich um den Schutz des eigenständigen Rechtssystems der Stadt

Im angrenzenden Civic Square erlebten Hongkongs Jugendbewegungen ihre ersten Feuertaufen bei Demonstrationen 2012, vor allem aber 2014: Sie wollten diesen Platz zurückholen, der einst geschaffen worden war für Versammlungen der Bürger, später aber von der Regierung abgeriegelt wurde. Die "Occupy"-Proteste 2014 weiteten sich aus zur Regenschirmrevolte, die einen Sommer lang die Stadt im Griff hielt. Am Mittwoch war der Platz wieder einmal kaum zu erkennen hinter all den Barrikaden und Polizisten in Schutzausrüstung. Für manche mag es so ausgesehen haben, als wiederhole sich das Jahr 2014. Aber das stimmte nicht.

Damals waren die Proteste Ausfluss eines Prozesses, der schon lange davor begonnen hatte: Es war der Versuch, Peking an den Verhandlungstisch zu bringen, um über Schritte zu diskutieren hin zu einer repräsentativen Regierung, wie sie das Basic Law, Hongkongs Grundgesetz, definiert. Viele in Hongkong glaubten damals, der einzige Weg, um das Überleben von Hongkongs Identität und Lebensstil noch zu garantieren, liege in einer Reform der Verfassung. Sie verlangten Fortschritte, und sie hofften, Peking werde ihnen zuhören.

Die Hongkonger von 2019 sind nicht mehr so naiv und vertrauensvoll. Hoffnung auf Fortschritt oder Reform von innen heraus gibt es nicht mehr. Viele glauben nicht mehr daran, dass ihre Identität als Hongkonger existieren kann neben der Identität als patriotischer Chinese, wie die KP Chinas sie definiert und einfordert. Die aktuellen Proteste drehen sich deshalb um den Schutz des eigenständigen Rechtssystems der Stadt. Sie speisen sich aus einer Furcht, die in den Eingeweiden sitzt, einer Furcht vor einem Leben mit dem Strick um den Hals, einem Regime ausgeliefert, dessen Justizapparat keine Skrupel hat, auch Folter, erzwungene Geständnisse und erfundene Vergehen einzusetzen.

2014 besetzten die Hongkonger die Straßen ihrer Stadt für eine Vision; am Mittwoch sah sich die Regierung einem Volk gegenüber, das verzweifelt festhält an einer Vorstellung von Sicherheit - in der Vorstellung dieser Bürger ist das Gesetz kein Instrument zur Stärkung des Staates, sondern ein Mittel zum Schutz der Einzelnen. Und während die Proteste 2014 noch viele Organisationen vereinten, waren die Proteste am Mittwoch mehr eine spontane Reaktion auf die Umstände.

Dass Regierungschefin Carrie Lam die Proteste einen "organisierten Aufstand" nannte, ist ein Witz. Sie waren weder organisiert noch ein Aufstand. Es waren Proteste der Aufgewühlten und Frustrierten, der Verzweifelten, die sich gefangen fühlen in einer Heimat, die ihnen nicht mehr zuhört und über deren Zukunft sie nicht mehr mitbestimmen dürfen. Sie hoffen auf ein Wunder, das die Regierung noch zum Einlenken bringt. Es geht ihnen um die Würde, als Volk zusammenstehen zu dürfen, Teil einer freien Gemeinschaft zu sein, die gemeinsam ihre Werte, ihre Identität und ihre Lebensart verteidigt.

Am Mittwochmorgen erhielt ich eine Flut von Nachrichten. Meine Bekannten auf der Straße schilderten gruselige Szenen. "Es fühlt sich an wie bei Orwell", schrieb ein Freund, der normalerweise nicht zur Übertreibung neigt. "Das hier ist ganz anders als bei Occupy 2014. Das Ganze hat ein Element der Nötigung, es ist viel düsterer." Und später: "Sie haben in die Menge geschossen. Schluss mit der friedfertigen Atmosphäre."

Andere, die das Geschehen nur von Weitem verfolgten, erzählten eine ganz andere Geschichte: "Die Demonstranten sind viel jünger und aggressiver." Das eine Hongkong sah eine Polizei, die auf nur kleine Provokationen extrem brutal antwortete und die zum Schrecken eines bis dahin zumeist friedvollen Protestes wurde. Das andere Hongkong - zumeist in bequemer Entfernung von jenen, die es traf - sah eine Polizei, die angemessen handelte in einer bedrohlichen Situation. Hongkong war ohnehin schon gespalten entlang dieser beider Narrative; nach dieser Woche wird sich die Spaltung vertiefen.

Die Hongkonger Regierung unterdrückt alles, was nicht ins offizielle Narrativ passt

Angeblich streben Chinesen ja vor allem nach Stabilität und Harmonie. Chinesische Regierungen, die diesen Zielen zumindest nach außen hin huldigen, zeichnen sich in der Praxis aus durch Kompromisslosigkeit und eine eiserne Faust. Carrie Lam ist ein Beispiel für beides, Peking wird das gefallen. Anstatt zu versuchen, durch Empathie und Verständnis die Lager zu versöhnen, versucht sie, die Spaltung zu überwinden, indem sie alles unterdrückt, was nicht ins offizielle Narrativ passt. Ihre Ausübung der Macht auf solch hierarchische und diktatorische Art und Weise ist vielen Hongkongern fremd, die sich noch an die vergleichsweise liberalen letzten Jahre der britischen Kolonialregierung erinnern. Carrie Lams Verständnis von Macht ist weit autoritärer, es passt mehr zur KP Chinas als zur Sonderverwaltungszone Hongkong, die seit eh und je Heimat ist einer freien, offenen und liberalen Gesellschaft.

Man muss nicht einmal glauben, dass Peking hinter all dem steckt, wie manche behaupten. Vor allem unter der Herrschaft des offen reaktionären und autoritären Parteichefs Xi Jinping ist etwas geschehen: Peking hat die Natur der Macht und ihres Verhältnisses zu den Menschen geändert. Prinzipien wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, Prinzipien also, die Kern dessen sind, was Hongkong ausmacht, werden unterwandert nicht allein durch den Druck auf institutionelle Strukturen, sondern auch dadurch, wie Menschen sie verstehen und sich zu ihnen verhalten. Die heimtückische Wirkung all dessen sind jetzt schmerzhaft zu spüren.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2019
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