Süddeutsche Zeitung

Theater:Gipfelstürmer des Kapitalismus

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Simon Stone überschreibt Maxim Gorki und sprayt die Revolution an die Glaswand: Sein tolles Ensemblestück "Komplizen" am Wiener Burgtheater.

Von Wolfgang Kralicek

Am Wiener Burgtheater wurde die erste Corona-Tote in einem Theaterstück registriert. Die Erkrankte litt zusätzlich unter einer Herzschwäche und starb kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus. Aber die Pandemie ist gar nicht das Thema in der neuen Klassikerüberschreibung von Simon Stone. "Komplizen" handelt von der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft, von der gläsernen Wand zwischen den Schichten und von den seelischen Verheerungen, die der moderne Kapitalismus auch unter den Kapitalisten auslöst.

Als Vorlage hat der Theaterliebling Stone diesmal zwei Dramen von Maxim Gorki verwendet. Das eine, "Kinder der Sonne" (1905), ist eine melancholische Tragikomödie im Tschechow-Stil, vor dem Hintergrund einer Cholera-Epidemie, die von einem wütenden Mob geleugnet wird - eine frappante Analogie zu den Corona-Demos von heute, die Stone allerdings nicht aufgreift. Stattdessen verschränkt er "Kinder der Sonne" mit dem Stück "Feinde" (1906), in dem der Klassenkampf in einem Familienbetrieb eskaliert: Ein Fabrikbesitzer wird erschossen.

Die neue Stone-Kreation kam jetzt am Burgtheater kurz nach seiner Sechs-Stunden-Inszenierung "Unsere Zeit" (nach Motiven von Horváth) am Münchner Residenztheater heraus; der knappe Abstand ist auf coronabedingte Verschiebungen zurückzuführen. Wie gewohnt hat der australische Autor und Regisseur von der Vorlage zwar die wesentlichen Teile des Plots übernommen, die Dialoge aber völlig neu geschrieben. Sein Stück ist nicht im zaristischen Russland, sondern im Wien der Gegenwart angesiedelt; Ort der Handlung ist ein Ensemble aus vollverglasten Pavillons (Bühne: Bob Cousins), die das modernistische Eigenheim von Paul und Tanya bilden.

Der Chemiker Paul (Michael Maertens) ist einst knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt; auch deshalb trinkt er zu viel: Wenn das Stück beginnt, ist er gerade dabei, einen gewaltigen Kater mit einer ganzen Karaffe Bloody Mary zu lindern. Die Schauspielerin Tanya (Lilith Häßle) ist um einiges jünger als ihr Mann, der sich zu wenig um sie kümmert. Die Ehekrise versuchen zwei Freunde des Hauses auszunutzen: Dietmar (Roland Koch), ein angeberischer Filmemacher ("Mein Freund Ken Loach sagt ..."), bemüht sich um Tanya; die leicht schizophrene Juristin Melanie (Birgit Minichmayr) ist hinter Paul her: "Hab ich erwähnt, dass ich eine von Österreichs besten Scheidungsanwältinnen bin?" Die Lebensmittelfabrik, der die Familie ihren Wohlstand verdankt, wird von Onkel Matthias (Peter Simonischek) betrieben, hinter dessen gemütlicher Seebärenfassade sich ein eiskalter Geschäftsmann verbirgt. Noch skrupelloser agiert sein ehrgeiziger Geschäftsführer Raschid (Bardo Böhlefeld); letzterer kommt im Zuge einer Rangelei mit empörten Arbeitern so unglücklich zu Sturz, dass er ins Koma fällt.

"Komplizen" ist ein tolles Ensemblestück, glänzend vor allem in den Paarszenen

Worauf sich der Titel "Komplizen" bezieht, ist etwas unklar; jedenfalls bietet das Stück die Stone-typische Mischung aus gewitzten Well-made-play-Dialogen und aktuellen, harten Themen; die knapp vier Stunden Spieldauer werden einem nicht lang. Auffällig allerdings, dass die proletarischen Figuren insgesamt weniger überzeugend geraten sind als die anderen: Das distanzlose Verhältnis etwa, das Haushälterin Anita (Annamária Láng) zu ihren Arbeitgebern hat, erscheint wenig glaubhaft, und dass die Putzfrau (Safira Robens) angehende Medizinstudentin ist, wirkt allzu märchenhaft. Auch nicht ganz plausibel, aber vielschichtiger gezeichnet ist Haustechniker Igor (Rainer Galke): Wir lernen ihn als tumben Choleriker kennen, der wegen seines sexistischen Verhaltens kurz vor der Entlassung steht; am Ende ist eine gebrochene, tragische Figur aus ihm geworden - die eingangs erwähnte Covid-Tote war seine Frau.

"Komplizen" ist ein tolles Ensemblestück, erreicht aber nicht die Dichte von Stones besten Arbeiten wie "Drei Schwestern" oder "Hotel Strindberg". Auf der Höhe seiner Kunst ist er vor allem in den herrlich verkorksten Paarszenen, etwa wenn die Rivalinnen Tanya und Melanie bei viel Chardonnay Freundschaft schließen. Als später die Männer dazukommen, entwickelt sich die Situation in Richtung Gruppensex - bis ein jäher Einbruch der Außenwelt dem Treiben ein Ende macht: Aktivisten entern die Szene und besprayen die Glaswände mit Parolen. Die böse Pointe des Stücks aber lautet: Bevor die Revolution ausbricht, übernimmt ein noch brutalerer Kapitalismus - auch in den Beziehugen - die Macht. Am Ende kehrt Raschid im Rollstuhl wieder und verkündet, dass er inzwischen Mehrheitseigentümer der Firma ist; den Familienwohnsitz möchte er abreißen lassen.

Das letzte Wort hat Matthias, der alte Patriarch. "Es ist aus", sagt er ganz ruhig. "Und wir sind selber schuld."

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