Süddeutsche Zeitung

Virtuelle Realität:Thomas Mann sein

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Der Theaterzauberer Bernhard Mikeska konfrontiert im Waldhotel Davos die Zuschauer mit Hilfe von Virtual Reality mit sich selbst.

Von Egbert Tholl

Man muss jetzt ein bisschen aufpassen, denn die Sache ist kompliziert. Also: Man sitzt im Waldhotel Davos vor einem Zimmer. Das, so wird man gleich sehen, ist so ausgestattet wie damals, als das Hotel noch das Sanatorium war, in dem Katia Mann 1912 kurte, ihr Mann Thomas sie besuchte und hier die vielen Beobachtungen machte, aus denen er seinen Roman "Der Zauberberg" baute. Der spielte dann auf der Schatzalp, 300 Meter höher. Aber man ist hier unten. Eine freundliche Helferin hat den Besucher mit Ohrhörern und einem Empfangsgerät ausgerüstet. Man sitzt da nun, taucht ein in eine akustische Welt und hört aus dem Zimmer eine Stimme, die einen auffordert einzutreten. Die Stimme gehört Hans Castorp, der Hauptfigur des Romans.

Drinnen sieht man ein karg möbliertes Zimmer. Auf dem Nachttisch liegt ein Hut, wie ihn Thomas Mann gern trug, und eine VR-Brille. Gegenüber sitzt eine Puppe, dicke Wollsachen schauen unter dem Bademantel hervor, der Kopf ist eine Kugelkamera. Die Puppe ist Castorp. Sie redet irritierend natürlich mit einem, als wäre man Thomas Mann. Der Schöpfer der Figur, der man in diesem Moment selbst ist, trifft also auf seine Erfindung. Castorp bewundert Mann (also den Besucher) in etwas unwilliger Ehrerbietung. Dann setzt man die VR-Brille auf, sieht an sich herab, trägt nun die Kleidung der Puppe Castorp - und sieht sich selbst hereinkommen. Das erste Gespräch diente also der Herstellung des 360-Grad-Films, in dem man sich nun selbst sieht. Im Kopf redet man mit sich, ist nun Mann und Castorp zugleich, die neuen Worte passen verblüffend zu der Mimik, zu der man zuvor veranlasst wurde. Es ist ein vollkommenes Zauberspiel. Man beobachtet sich selbst als wäre man ein Fremder.

Dieses Meisterstück muss eine Referenz dafür werden, wie man VR-Brillen im oder als Theater einsetzen kann

Dann verschwindet man selbst in der Brille, und Thomas Mann tritt nun in dieser virtuellen Realität des Films auf, der in die Brille projiziert wird, dargestellt vom herrlichen Peter Jecklin. Man blickt sich mit der VR-Brille um. Das Zimmer ist nun etwas verwahrlost, Laub liegt herum. Man selbst ist als Castorp offenbar vergessen worden. Und der alte Thomas Mann, der den Hut ablegt, auf den Hut, der da bereits liegt, ist unzufrieden mit dem Zustand seiner Schöpfung. Er will, dass die noch einmal lebt, aufbricht ins Draußen. Das tut man gern, fühlte sich schon dem eigenen Vergessensein nah. Man nimmt die Brille ab, verlässt das Zimmer., Und im Augenwinkel sieht man: Da liegen nun zwei Hüte, aufeinander.

Bernhard Mikeska und seine Zaubertruppe von Raum+Zeit haben nach vielen faszinierenden Eins-zu-eins-Theaterarbeiten dieses Meisterstück erfunden, das eine Referenz dafür werden muss, wie man VR-Brillen im oder als Theater einsetzen kann. In den vergangenen Jahren begegnete diese Technik einem öfters, meist allerdings so, dass man sie durch eine Videoprojektion ersetzen könnte. Das Theater Augsburg versandte im Lockdown Brillen zu den Zuschauern nach Hause, in denen der Rundum-Film einer Aufführung steckte. Man staunte, blieb aber der distanzierte Betrachter.

Obwohl der Text von Lothar Kittstein in wenigen Sätzen Jahre der Beschäftigung mit Thomas Mann kondensiert, geht es in "Im Zauberberg" letztlich um etwas anderes. Mann erfand viele Figuren, die das lebten, was er nicht leben konnte. Ende August gibt es im Waldhaus in Sils einen zweiten Teil, da trifft er auf seinen Sohn Klaus, der ja auch lebte, wie Mann sich nie traute. Aus dieser Motivik entsteht die totale Konfrontation des Besuchers mit sich selbst, den eigenen Träumen, Wünschen, Sehnsüchten bis zum Nachdenken über den eigenen Tod. Das ist vollkommen irre, grandios.

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