Süddeutsche Zeitung

Ausstellung:Trophäen der Menschlichkeit

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Die amerikanische Künstlerin Diamond Stingily hat die Räume des Münchner Kunstvereins in eine große Installation verwandelt, in der Identitäten verhandelt werden. Die neue Direktorin Maurin Dietrich beginnt damit ihre Amtszeit

Von Evelyn Vogel

Vielleicht muss man sich in Erinnerung rufen, was Chicago einmal war. Und wie Chicago ist. Eine Stadt voller Gewalt. Man muss dabei nicht einmal zurückgehen bis in die Zwanzigerjahre, zu den Zeiten des legendären Gangsters Al Capone. Bis zur Jahrtausendwende galt die Stadt am Michigansee als eine der gefährlichsten Städte der USA. Dann gab es ein paar Jahre relativer Ruhe, es waren jene Jahre, als ein junger schwarzer Senator aus Chicago namens Barack Obama sich anschickte, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Doch 2016 stieg in Chicago die Gewalt wieder sprunghaft an. Mord und Totschlag wurden in der Stadt so allgegenwärtig, dass im vergangenen Jahr die Tatsache, dass in Chicago innerhalb von 22 Stunden niemand getötet worden war, sogar für Schlagzeilen sorgte.

Ja, vielleicht muss man die schönen Seiten dieser Stadt wie die Museen, Theater und Jazzclubs, die Parks, die Kunst im öffentlichen Raum und die Architektur mal kurz vergessen und sich all das Negative vergegenwärtigen, um das Werk zu verstehen, das die 1990 in Chicago geborene schwarze Künstlerin Diamond Stingily im Münchner Kunstverein zum Start der neuen Direktorin Maurin Dietrich zeigt. Ein Werk, in dem sie, basierend auf persönlicher Erfahrung, mit Rassismus und Gewalt die sozialen und ökonomischen Strukturen der amerikanischen Gesellschaft, ihre Identität analysiert. Das Konzept ist ein - wenn man so will - etwas anderer Blick auf das, was Chicago, was das ganze Land prägt und ein ironischer Umgang mit der Parole, die Donald Trump in seiner simplifizierenden Art und Denkweise gern als "Make America great again" ausgibt.

"In the Middle but in the Corner of 176th Place" heißt die Installation, die den Hauptraum des Kunstvereins einnimmt. Dort stehen auf dunkelbraunen Archivregalen mehr als 700 Trophäen, wie sie bei sportlichen Wettkämpfen verliehen werden, in Reih und Glied. Football, Baseball, Basketball und andere Sportarten, die im amerikanischen Bildungssystem eine viel größere Rolle spielen als im europäischen. Für Kinder, die aus ärmeren Familien stammen, ist ein Sportstipendium oft die einzige Chance auf höhere Bildung. Und doch wird noch immer eine Rassentrennung anhand der Sportarten deutlich: Es spielen noch immer mehr schwarze und weniger privilegierte Sportler Basketball, weil man überall einen Korb hinhängen kann. Im teuren Schwimmtraining und auf den Golfplätzen mit ihren oft absurd hohen Mitgliedsbeiträgen sieht man mehrheitlich weiße Sportler.

Diamond Stingily hat die Plaketten der Trophäen mit eigenen Kommentaren versehen und so Begriffe wie Kampf, Sieg und Niederlage in Frage gestellt: "Through all the madness this is all you gone get", "I did the best I could with what I had" oder "It was all for the glory" ist da zu lesen. Immer wieder auch taucht der Satz auf: "Doing the best I can". Denn das Leben besteht nicht allein aus Höchstleistungen, auch wenn sich der American Dream nach wie vor um das "immer schneller, immer höher, immer weiter" dreht. Und Diamond Stingily weiß, wovon sie spricht. Mehrere ihrer sechs Geschwister sind Sportler, zwei spielen sogar in der NFL, der American Football Profiliga. Auf sportlichen Drill verweist auch der Titel der Ausstellung "Wall Sits": In der Hocke stundenlang ausharren zu müssen, war in ihrer Jugend eine gängige Bestrafungsmethode.

Neben der Trophäen-Installation im Hauptraum mit ihrer Masse, nehmen sich die aus Kabeln geflochtenen und verknoteten Objekte im Raum dahinter eher subtil aus. Sie spielen an auf in Armut gefangene Kinder, die mit allem, was sie auf der Straße finden, spielen. Wenn kein Geld für ein richtiges Springseil da ist, dann tun es auch Kabelreste. Brachialer wirken die beiden anderen Werkgruppen: die Gitter aus Eisen mit Speerspitzen, wie man sie aus amerikanischen Städten kennt. Schutz sowie Aus- und Abgrenzung spielen hier hinein. Im Kunstverein hat Stingily sie allerdings ganz oben, vor die Fenster gehängt, so dass man sich fragt, ob sie die Gitter damit ihrer Funktion berauben wollte oder mehr noch deutlich machen will, dass bis hinauf zum höchsten Fenster der private Raum beschützt werden muss.

Um Schutz geht es ganz eindeutig in der Arbeit "Entryways", die die Besucher gleich am Anfang der Ausstellung empfängt. Hier sind eine Reihe von abgenutzten Türen mit Sicherheitsschlössern zu sehen, an denen Baseballschläger lehnen. Diamond Stingily, die in ihrer Kindheit viel Zeit bei ihrer Großmutter verbrachte, bezieht sich damit auf reale Vorbilder aus jener Zeit. Türen zu haben, die stabil waren und die man absperren konnte, so erzählt sie, war wichtig im Chicago der Neunzigerjahre. Und auch bei ihrer Großmutter stand ein Baseballschläger nah bei der Tür, um sich notfalls gegen Eindringlinge verteidigen zu können. Aber, so fügt sie hinzu, zu ihren Kindheitserinnerungen gehört nicht nur die Angst vor der Gewalt. "Da war auch viel Liebe im Haus meiner Großmutter." Und bei diesen Worten wird ihre Stimme ganz sanft und ihre Augen glänzen.

Ja, Chicago war und ist sicher keine ganz einfach Stadt, genauso wenig wie das ganze Land. Aber mit einpeitschenden Parolen verändert man die Welt vielleicht weniger als mit Verständnis und Liebe.

Diamond Stingily: Wall Sits , Kunstverein München, Galeriestraße 4, bis zum 17. November, Di-So 12-18 Uhr, Do 12-21 Uhr

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Quelle:
SZ vom 21.09.2019
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