Süddeutsche Zeitung

Heimat vs. Urbanisierung:Erlebt der ländliche Raum ein Comeback?

Lesezeit: 7 min

Mehr als die Hälfte der Deutschen lebt jenseits der Metropolen, doch viele Gemeinden und Städte im ländlichen Raum drohen abgehängt zu werden. Vom Zwiespalt der Provinz und der Suche nach einer Zukunft.

Von Gerhard Matzig

Es gibt das Phänomen "Urban Gardening" sowie die Modeketten "Urban Outfitters" und "Urban Trendsetters". Die Urban G/S ist ein Motorrad von BMW und der Urban EV ein Auto von Honda. Der Fahrradhersteller annonciert ein Bike "für den urbanen Dschungel", während das Immobilienportal ein Passivhaus in Pankow preist - für "trendige Urbanisten".

Urbane Gärten, Socken, Häuser und Vehikel: Das "urbane Leben" reflektiert nicht allein Marketing-Chiffren, es umreißt auch einen Begriff, der die Lebenswelt der Gegenwart mit der menschlichen Siedlungsgeschichte zur Deckung bringt. Das Urbane ist in der aktuellen Epoche rapide zunehmender Verstädterung, da erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben, zugleich ein emotional besetzter, unscharf und raunend formulierter Sehnsuchtsort, wie er auch als empirisch bestimmter, klar vermessener Lebensraum konkret ist. Als Stadt nämlich. Aus dieser Dualität - realer Lebensraum einerseits und Wunschtraum andererseits - bezieht der Begriff von der Urbanität als städtisch definiertes Lebensmodell ("urbs", Stadt) seine Schlagkraft und leider auch seine enorme Nervensägenhaftigkeit.

Es ist nahezu aussichtslos, noch irgendein Produkt oder gar eine Lebensform finden zu wollen, die sich dem Urbanisierungssog entziehen. Denkt man. Und googelt fast schon verzweifelt die Begriffe "urban" und "Bügeleisen", weil doch dazwischen unmöglich irgendein sinnvoller Zusammenhang bestehen kann.

Falsch gedacht. Die Disziplin "Urban Style" ist laut Wikipedia eine Sonderform des "Extrembügelns". Urbane Bügler bevorzugen demnach ein Habitat "im städtischen Umfeld". Ein Foto illustriert diesen Amok mit einem jungen Mann, fixiert ans Heck eines Autos, der ein blaues Hemd bügelt. Bei voller Fahrt durch den sogenannten urbanen Dschungel.

Gibt es denn nichts mehr, was es nicht auch in einer urbanen Variante gibt? Peter Haimerl vielleicht? Eben nicht. Der 56-jährige Architekt, der von der Fachzeitschrift Baumeister als "Ausnahmeerscheinung in der deutschen Architekturszene" beschrieben wird, hat ein Büro in der Münchner Innenstadt. In einem Innenhof von Haidhausen. Urbaner geht's kaum. Trotzdem ist er auch so etwas wie der letzte Mohikaner des Landlebens. Zwar stammt er nicht aus Nordamerika, sondern aus dem Bayerischen Wald. Und er kämpft auch nicht gegen die Huronen, sondern befindet sich gerade in Blaibach, wo einem Tschechien nah vorkommt und die hier typischen Autokennzeichen CHA, KÖZ oder WÜM exotisch erscheinen.

Außerdem ist Haimerl nicht auf dem Kriegspfad, sondern auf dem Symposion "Come Back! Zukunftslabor ländlicher Raum". Das fand kürzlich, kuratiert von Julia Hinderink, im Konzerthaus Blaibach statt. Mitten in der Pampa. Aber auch mitten in einem Wunder. In einem Raum- und Akustik-Wunder. Eigenartig monolithisch und wie vom Himmel gefallen als moderner Baukörper, der zugleich so selbstverständlich eine neue Mitte von Blaibach definiert, als wäre der spektakulär selbstverständliche Konzertsaal schon immer hier zu Hause. Fremdvertraut.

Peter Haimerl hat diesen Konzertsaal vor einigen Jahren im Zuge der Reanimation Blaibachs zusammen mit einigen anderen Visionären erfunden. Nun erzählt er davon, wie man das sterbende Land am Leben hält. Immer mehr Experten, Architekten, Soziologen oder auch Regionalraumplaner sind wie er der Meinung, man habe die "Renaissance der Stadt" nun gebührend lang gefeiert. Jetzt sei endlich mal die Wiedergeburt des Landes angesagt.

Doch wie soll das gehen? "Indem man die alten Zentren stärkt", sagt Haimerl, "indem man den Dörfern neue Perspektiven aufzeigt. Auch mit den Mitteln von Architektur, Kultur und Städtebau." Und indem man das Phänomen der Landflucht nicht als "gottgegeben" akzeptiert. Dennoch: "35 Prozent der deutschen Landgemeinden", so der aktuelle Baukultur-Bericht "Stadt und Land", "sind mit Bevölkerungsrückgängen konfrontiert". Der Urbanisierungsprozess macht das Land zum Verlierer. Die Gründe liegen auf der Hand. In der Stadt gibt es Arbeitsplätze, Bildung und Infrastruktur. Ärzte und Apotheken. Kinos und Theater. Und, ja doch, Extrembügler.

Noch um 1900 lebte auf der Erde nur etwa jeder zehnte Mensch in einem städtisch geprägten Lebensraum. Allein seit 1950 hat sich der Anteil der Städter vervierfacht. Bis 2050 sollen nach Schätzungen der UN mindestens drei Viertel der Weltbevölkerung in riesigen Stadtstrukturen leben. Schon in den nächsten Jahren, warnt eine Studie (Deutsche Bank Research), fehlen der Welt in den Städten bis zu einer Milliarde Wohneinheiten. Was es nämlich gerade wegen des gespenstischen Erfolgs der Stadt dort nicht gibt: Das ist Wohnraum in seiner schönsten Form - bezahlbar und leicht zu finden. Spätestens jetzt, in einer Zeit, da in den Ballungsgebieten von Stuttgart über München bis Berlin und Hamburg die "neue Wohnungsnot" herrscht, kommt das Land ins Spiel.

Der niederländische Architekt Rem Koolhaas glaubt, dass sich "die Zukunft auf dem Land entscheidet". Allen Urbanisierungseuphorien zum Trotz. Auch der Schweizer Mark Michaeli, der in München als Professor die "nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land" lehrt, glaubt an ein mögliches Comeback des Landes: "Richtiger wäre es allerdings", sagt er, "nicht vom Zurückkehren, sondern vom Dableiben zu sprechen." Denn das Land könne inzwischen ohnehin vieles, was früher den Städten vorbehalten war. Aus dem Marktplatz als singulärem Ort des Handels ist beispielsweise der eher ortlose Onlinehandel geworden. Und aus Arbeitsplätzen wurden, jedenfalls theoretisch, mobile Tele-, also Fernarbeitsplätze, Stichwort "Homeoffice", die in der Stadt wie auf dem Land funktionieren. Gerade deshalb, so Michaeli, sei der regionale Netzausbau so wichtig. "Deutschland hat die Digitalisierung im Raum verschlafen."

Die Digitalisierung wiederum macht auf dem Land das Arbeiten abseits von Ackerbau, Viehzucht und Tourismus möglich. Dazu passt auch ein fast städtisch geprägtes Wohnen nahe der reanimierten Ortskerne, also nicht in bonbonbunten Einfamilienhäusern, die sich abseits toter Zentren wie Streusel auf dem Donut angesiedelt haben.

Michaeli zufolge geht es nicht um ein Zurück in ein vermeintlich ländliches Idyll, das es eh nie gab, sondern um die künftige "Etablierung urbaner Lebensstile im ländlichen Raum". Oder sagen wir doch gleich: in Blaibach. Hier leben rund 2000 Menschen. Noch. Oder wieder. Der Konzertsaal hat Blaibach bekannt gemacht. "Man lebt jetzt ganz gut vom Tourismus", sagt der Bürgermeister. In der Typologie der Raumordnung ist Blaibach eine "Landgemeinde". Davon gibt es in Deutschland 3 803. Als "Stadt" gilt hierzulande alles, was mehr als 5000 Einwohner hat. Eine "große Großstadt" ist man ab einer halben Million Menschen, die dann immer noch knapp 76-mal in die derzeit größte Stadt der Welt passen würde, in den Großraum Tokio, wo 37,6 Millionen Menschen leben. Vom Dorfsterben sind allerdings nicht nur Dörfer, sondern auch unglücklich agierende Kleinstädte betroffen.

In der Landgemeinde Blaibach fühlt sich der Touristen-Hotspot, der zugleich ein Landsterben sein könnte, so an: Im Schlossgasthof gibt es Schweinshaxe mit Knödel und Kraut (sechs Euro), der Friseur heißt, wie sich das gehört, "Haarmonie" und am Bahnhof, der geschlossen wurde, um durch eine Art Bushäuschen ersetzt zu werden, gibt es ein Verzeichnis aller 45 Blaibachstraßen, vom Ahornweg bis zum Weiherwiesenweg. Der Minigolfplatz ist tot. In der Auslage der Sparkasse wird einem das Einfamilienhaus für eine Summe angeboten, die in München eine Doppelgarage kostet. Aber wenn die Teilnehmer des Symposions zum Zukunftslabor "ländlicher Raum" das Labor wieder verlassen, fahren sie wohin? Nach München in die Doppelgarage. Das Comeback, das sich der Landflucht entgegenstemmt, ließe sich auch so formulieren in Blaibach: ach, bleib!

Kann das Land gegen die Stadt wirklich punkten? Muss die Verstädterung, die lange als "unumkehrbar" galt, eine Einbahnstraße sein? Wäre die Balance aus Stadt und Land nicht auch das heterogene Ideal einer differenzierten Gesellschaft? Und braucht man dazu ein Wunder?

Mit dem "Wunder von Vrin" kennt sich am besten Gion Caminada aus. Den 60-jährigen Architekten trifft man am Ende der Welt. In Vrin. Das ist ein Dorf im hintersten Winkel Graubündens. 19 Minuten braucht der Bus von hier bis zum Nachbarort. Sehr oft fährt er nicht. Gegen Vrin ist Blaibach eine Metropole. Gut zweihundert Menschen leben hier. Und das ist ein "Wunder", wie es mal im Spiegel hieß. Denn das Dorf in den Bergen war "schon fast ausgestorben, blutleer wie ein Freilichtmuseum". 40 Jahre lang sei Vrin betroffen gewesen vom Dorfsterben. Doch dann habe Caminada, der Architekt aus Vrin, eine Mehrzweckhalle gebaut, eine Schule und sogar eine Totenstube. Auch dort sei Vrin dann auferstanden von den Nicht-mehr-ganz-so-Lebenden. Mit Hilfe guter Architektur sei Vrin gerettet worden. Bald stieg die Einwohnerzahl. Dann fiel sie wieder. Jetzt stagniert sie.

"Na ja", sagt Caminada, den man an der Schule trifft, die wieder leer ist. Aus einer abgewetzten Lederjacke guckt er einen an, nimmt einen Zug vom Zigarillo und sagt: "Das Wuuuunder, soso." Das Wort mag er nicht. Es stimmt halt einfach nicht. "Ich kann nicht sagen, ob Vrin Zukunft hat, aber wenn, dann läge es nicht nur an guter Architektur oder irgendeinem tollen Kulturbau." Sondern? "Daran, dass man hier außer der guten Luft auch ein gutes Auskommen haben könnte. Einen Grund, zu bleiben. Aber das wäre dann kein Wunder, sondern Ökonomie."

"Deutschland hat die Digitalisierung im Raum verschlafen."

Das weiß mittlerweile auch die Politik. In den Städten, wo die Arbeitsplätze sind, fehlen die Wohnungen. Und dort, wo der Wohnraum ist, fehlt die Arbeit. Man muss jetzt beides tun: Wohnungen in den Städten schaffen - und die Arbeit auf das Land bringen. Alles andere führt nur immer weiter ins Pendler-Pandämonium.

Es gibt im Grunde zwei große Gegenbewegungen zum urbanen Fetisch der Gegenwart. Das eine dürfte die Brunnenkresse sein. Sie ist das Lieblings-Covergirl von florierenden Zeitschriften, die Landlust oder Liebes Land heißen. "Neonature" und "Outdoor" sind virale Sehnsuchtsmomente der Gegenwart. Das andere aber ist die Tatsache, dass Donald Trump auf dem uramerikanischen Land gewählt wurde. Dass der Front National in Frankreich auf dem Land Erfolge feiert. Dass der Brexit in England in der Region beschlossen wurde. Und dass die AfD in Deutschland oder die FPÖ in Österreich meist auf dem Land fischen gehen. Es geht auch immer um die Geografie des soziopolitischen Raumes. Deshalb sind jetzt alle Parteien panisch dabei, allerlei Thesenpapiere zur Stärkung des Landes oder die Idee eines Bundesheimatministeriums in die Welt zu blasen.

Die Heimat ist dies: 93 Prozent der Fläche Deutschlands werden von Gemeinden jenseits der großen Metropolen eingenommen. 60 Prozent der Deutschen wohnen in Landgemeinden, Kleinstädten und kleineren Mittelstädten. Wir sind Provinz - und diese Provinz darf nicht zum Reservat des Abgehängtseins werden. Das Land-Stadt-Schisma beinhaltet daher ungeheure Sprengkräfte. Das Comeback des Landes käme insofern gerade noch rechtzeitig. Einem Wunder dann doch ziemlich ähnlich.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2017
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