Süddeutsche Zeitung

Architektur:Wohnzimmer für Informierte

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In der neuen Zentralbibliothek von Helsinki gibt es nicht nur Bücher, sondern auch 3-D-Druckerund Robotikkurse. Sie ist Raum zum Erlernen neuer Techniken und Labor für soziale Gerechtigkeit.

Von Laura Weißmüller

Jeder, der Zeit in der Stadt verbringt, soll sich hier willkommen fühlen", sagt Samuli Woolston. Obwohl sein Satz so einfach ist, ist er kaum zu verstehen. Der 43-jährige Architekt steht im Eingang der neuen Zentralbibliothek in Helsinki, die er mit seinem Büro ALA entworfen hat. Ein nicht enden wollender Strom an Menschen flutet an dem schlanken Finnen vorbei. Lärmende Kindergartenkinder in ihren neongelben Westen, lachende Mütter und Väter mit schwer beladenen Kinderwägen, staunende Touristen, zielstrebige Senioren, berucksackte Studentengruppen, Frauen mit Kopftuch und Frauen ohne. Es ist, als hätte sich halb Helsinki an diesem gewöhnlichen Mittwochvormittag verabredet, um die Bibliothek zu besuchen.

Das Oodi ist täglich geöffnet, meist bis 22 Uhr. Davon kann man in Deutschland nur träumen

Doch gewöhnlich ist nichts an diesem Ort, wie schon der Name, "Oodi", finnisch für Ode, andeutet. Denn was die Menschen hier tun und wie lange, hat mit dem, was hierzulande die allermeisten Bibliotheken zulassen, kaum etwas gemeinsam. In Helsinki kann man 3-D-Drucker nutzen und löten, es gibt Nähmaschinen und professionelle Foto- und Tonstudios - inklusive der Musikinstrumente - und sogar eine Küche. Die Besucher können hier am Computer zocken, Meetings abhalten, ihre Steuererklärung machen oder auch nur rumsitzen. Das alles werktags von 8 bis 22 Uhr und am Wochenende von 10 bis 20 Uhr. In Deutschland kann man von solchen Öffnungszeiten nur träumen.

Wie das in Helsinki funktioniert, wird bei einer Tour durch das jüngst eröffnete Haus schnell klar. Doch was es für eine Gesellschaft bedeutet, sich einen solchen Ort zu leisten, und welches Selbstbild sich darin manifestiert, darüber sollte man länger nachdenken. Und zwar nicht nur, wenn man wieder einmal darauf eifersüchtig ist, wie gut die Finnen beim Pisa-Test abgeschnitten haben.

Was bei Woolston so einfach klingt, ist es ja nicht mehr: Längst nicht mehr alle Menschen fühlen sich in unseren Städten willkommen. Auch in Helsinki wird immer mehr öffentlicher Raum privatisiert, Shopping-Malls schießen in die Höhe. Wer nichts kaufen will, hat dort nichts verloren.

Im Oodi ist das anders. Schon die Architektur formuliert einen Willkommensgruß. Der schlanke Gebäuderiegel, der 100 Millionen Euro gekostet hat, gezahlt von Finnland und der Stadt Helsinki, wirkt wie ein Schiff mit Kurs auf seine Besucher, mit hölzernem Bug und Unterbau, gekrönt von einem schwungvoll gewellten Glasdach.

Die Nachbarn machen sofort klar, welche Bedeutung dieser Ort für Helsinki hat. Gleich gegenüber thront das Parlament, in direkter Nähe befindet sich das grün schillernde Konzerthaus, das Kunstmuseum Kiasma, das Verlagsgebäude der größten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat und die Finlandia Hall, Alvar Aaltos imposantes, schneeweiß gewürfeltes Kongresszentrum. Kulturquartier nennen die Finnen bescheiden das Areal, man könnte auch Herz der Stadt dazu sagen.

"Wir haben versucht, durch die Architektur zu erklären, wie die Bibliothek zu benutzen ist", sagt Woolston. Sein Vater kam in den Siebzigern aus England nach Helsinki. Er war einer "von vielleicht zwölf Menschen, die hier Englisch sprachen", so Woolston. Damals lebten tatsächlich kaum Ausländer in Finnland. Das ändert sich, auch dank der Flüchtlinge. Gerade deswegen ist es so wichtig, einem öffentlichen Gebäude eine Art architektonische Gebrauchsanweisung einzuschreiben. Die im Oodi versteht jeder, egal welche Sprache er spricht.

Das fängt mit der Fassade an. Bis weit über den Vorplatz ragt das Holzdach, das sich organisch aus dem Gebäude herausschwingt und die Besucher zu den gläsernen Drehtüren leitet. Dahinter darf es ruhig laut zugehen. Woolston nennt die Funktion des Erdgeschosses "Zusammenkommen". Es gibt ein Auditorium, ein Kino und ein so günstiges wie einladendes Restaurant. Außerdem Ausstellungsflächen, wo die Stadt Helsinki einige der vielen neuen Bauprojekte vorstellt - kaum eine Stadt in Europa wächst so schnell wie diese. Dazu ein kleines "Schaufenster Europa", wo sich die EU präsentiert, und eine Touristeninformation. Schon diese verschiedenen Nutzungen im Erdgeschoss machen klar: Das Oodi richtet sich nicht an eine bestimmte Besuchergruppe, sondern an alle.

Finnland ist stolz auf sein dichtes Netz an Bibliotheken. Doch viele der 10 000 Menschen, die täglich ins Oodi kommen, sind nicht wegen der Bücher hier. Davon kann man sich im Raum für die Buchrückgabe überzeugen. Nicht die Technik, die dort die Bücher in Wägelchen einsortiert und auf ihren Weg zurückschickt, ist das Erstaunliche daran, sondern die Leere des Raumes. Nur selten legt ein Besucher ein ausgeliehenes Buch auf die Rollen.

Aber natürlich gibt es Bücher, 100 000 sind es, was nicht viel ist für eine Bibliothek dieser Größe. Sie befinden sich im zweiten Stock. Wer es eilig hat, nimmt dorthin die Rolltreppe, wer mehr Zeit hat, steigt über die breite schwarze Freitreppe, die sich in Form einer geschwungenen Doppelhelix durch das Gebäude windet, nach oben. Eine der wenigen architektonischen Extravaganzen, die sich das finnische Büro ALA bei dem eher pragmatischen Entwurf erlaubt hat.

Zehntausend Menschen kommen jeden Tag. Doch nur wenige leihen Bücher aus

Oben angekommen ist der Ausblick in den 45 000 Quadratmeter großen offenen Raum gewaltig. Nicht allein auf die Stadt, die sich hier zu allen Seiten betrachten lässt - bei gutem Wetter auch von der großzügigen Holzterrasse aus -, sondern viel mehr noch auf die Menschen und wie sie sich die lichte weiße Landschaft zwischen den niedrigen Buchregalen und einzelnen Bäumen erobern. Am besten lässt sich das an den Kindern studieren. Oodi scheint für sie ein einziger großer Vergnügungspark zu sein. Die jungen Besucher erklimmen zu beiden Seiten die steil ansteigenden hölzernen Emporen, sie turnen über die Treppen, spielen Karten, essen ihre Brotzeit, und ja, sie lassen sich auch Bücher vorlesen oder stöbern selbst in welchen. Aber das Lesen ist eben nur eine Tätigkeit von sehr vielen hier.

Ähnlich ungezwungen verhalten sich die Erwachsenen. Egal ob Sofalandschaft, Sessel oder Stühle - sämtliche Plätze sind von entspannten Menschen besetzt. Trotzdem fühlt es sich nicht gedrängt an. "Die Menschen werden hier auf ganz natürliche Weise ruhiger", sagt Woolston. Was einerseits daran liegen dürfte, dass die Architekten das oberste Stockwerk angenehm sparsam mit Möbeln bestückt und sämtliche Technik im Holzboden versenkt haben. Das räumt die nahezu stützenlose Halle optisch auf und sorgt für Ruhe im Blick.

Andererseits dürfte aber auch die grandios dahinwellende Decke für Beruhigung sorgen. Sie ist samten weiß, mit runden, wie natürlich geformten Öffnungen und brandet in Form einer gewaltigen Welle über die Köpfe der Menschen, wobei sie einen Großteil der Geräusche schluckt. Akustisch ist das Höchstleistung, optisch reiner Baldrian.

Das Gegenteil dazu stellt das mittlere Stockwerk dar, es ist so etwas wie der Maschinenraum. Hier darf es laut werden, das gibt auch die Architektur zu verstehen: offene Technikdecke, schmuckloser Industrieboden, kaum Fenster, eine Vielzahl unterschiedlich großer Glasstudios, die eher einem Verhau gleichkommt, und eine ganze Armee unterschiedlicher Maschinen.

Woolston nennt den ersten Stock den "Raum, der übrig blieb". Das klingt zufälliger, als es beim Entwurf gewesen sein dürfte. Denn die Unterdeck-Ästhetik befreit die Etage von Pathos und macht die Architektur dadurch veränderbar. Es ist noch immer selten, dass Gebäude ihre eigene Veränderung so wohlwollend zulassen und das, obwohl heute die meisten Wände flexibel sind. Doch ein monumentaler Entwurf verzeiht eben kein Wändeverschieben. Dieser hier schon.

Das passt zum Makerspace, wie hier das Stockwerk genannt wird, man könnte es auch als Werkstatt für eine moderne Stadtgesellschaft beschreiben. Die Benutzer können hier für wenig Geld Maschinen verwenden, die man jahrelang eher in Designausstellungen gesehen hat, 3-D-Drucker etwa oder Laser-Cutter.

Sie können aber auch einen Raum für sich reservieren und dort ihrem Job als Freelancer nachgehen, Radiointerviews führen, Fotoshootings machen, Geschäftskunden treffen. Und sie haben die Möglichkeit, etwas über Robotik zu lernen, über Coden und all die anderen IT-Techniken, die in Deutschland immer noch so sehr nach Zukunft klingen, obwohl sie in vielen Berufen längst Standard sind.

Die Schuhe auszuziehen, ist erlaubt, andere durch sein Verhalten zu belästigen, nicht

"Für uns ist das hier ein Beitrag, eine gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen", erklärt Sanna Huttunen, die mit sieben Kollegen den Makerspace betreut. Die staatstragenden Worte der 44-Jährigen wirken auf den ersten Blick etwas seltsam in dem bienenstockartigen Gewimmel. Aber natürlich stimmt es. Nur die Möglichkeit, das, was der Tsunami des digitalen Wandels in unseren Alltag gespült hat, auszuprobieren und zu benutzen, schafft die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe.

Das gelingt im Oodi auf überraschend freudvolle Weise. "Wir bringen manches zu den Menschen, von dem sie noch gar nicht wissen, dass sie es einmal können müssen", sagt Huttunen. "Wer keinen Zugang zu diesen Technologien hat, fällt aus der Gesellschaft." Die nötige Anleitung liefern Menschen wie Huttunen, die hier "Specialized Librarian" heißen. Der Architekt Woolston nennt sie lieber "Informierte".

Zu Huttunens Job gehört es übrigens auch, für Sicherheit zu sorgen. Dass damit nicht das Verhalten bei einem Feueralarm gemeint ist, machen die "Prinzipien für einen sichereren Raum" deutlich, die jeder Benutzer zu befolgen hat. Verboten ist Diskriminierung jeglicher Art, erwartet wird Respekt gegenüber allen und ein Verhalten, das dem Rechnung zollt, dass man sich gerade in einem "öffentlichen Wohnzimmer" aufhält. Sprich: Schuhe ausziehen ist erlaubt, andere durch sein Verhalten zu belästigen, nicht. Ganz nebenbei bringt das Oodi also auch den Menschen bei, wie sie sich in der Gesellschaft zu verhalten haben, damit sich dort auch alle wohlfühlen.

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Quelle:
SZ vom 29.03.2019
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