Süddeutsche Zeitung

"Antlers" im Kino:Monster auf dem Dachboden

Lesezeit: 2 min

Arbeitslosigkeit, Drogensucht, Rassismus: Der Horrorfilm "Antlers" zeigt, wie die Krisen der amerikanischen Gesellschaft zusammenhängen.

Von Sofia Glasl

Nach der Schule geht der kleine Lucas in den Wald. Mit einem Stein erschlägt er ein Stinktier, trägt es nachhause und schneidet es in kleine Stücke: Fütterungszeit. Hinter der doppelt und dreifach gesicherten Dachbodentür rüttelt und faucht es. Nur unter Todesangst kann er hinauf gehen und dem dort lauernden Monster seine tägliche Ration Fleisch bringen.

Was da lauert, ist geheimnisvoll und greifbar zugleich und hat den Jungen schon schwer gezeichnet. Fahl, abgemagert und ein wenig verwahrlost sitzt er im Unterricht und liest Schauergeschichten von menschenfressenden Wölfen vor, die seine Lehrerin Julia aufhorchen lassen. Ihr Bruder, der Dorfpolizist weiß: Lucas' Vater ist ein arbeitsloser Meth-Dealer, die Mutter tot. Da könne man nicht viel machen. "Was passiert mit den Kindern, wenn der Vater ins Gefängnis wandert?" Eben.

Für seinen fünften Spielfilm "Antlers" hat sich Regisseur Scott Cooper einen ziemlichen Themenbrocken ausgesucht: Arbeitslosigkeit, Opioidkrise, Missbrauch und Rassismus gegen die indigene Bevölkerung. Vielfach gibt es in den USA Kleinstädte wie diese, in der die Trostlosigkeit aus allen Winkeln zu tropfen scheint. Einzeln hat Cooper diese Probleme bereits verarbeitet, etwa in seinem Sucht-Drama "Crazy Heart" (2009) mit Jeff Bridges, oder im Western "Feinde - Hostiles" (2017).

In einem Sozialdrama wäre das geballte Elend, das er nun zeigt, vermutlich übermächtig oder unglaubwürdig geworden. Ein bisschen viel Schicksal für die Anteilnahme an einem kleinen Menschenleben. Als Horrorfilm jedoch kann Cooper alle Themen anschneiden, ohne sie durchdeklinieren zu müssen. In seiner Adaption der Kurzgeschichte "The Quiet Boy" von Nick Antosca macht er stattdessen den indigenen Mythos des Wendigo zu einer allumfassenden Metapher.

Cooper nutzt das Wesen vor allem, um die sozialen Missstände als unausweichliches Geflecht zu begreifen

Einige nordamerikanische First Nations nämlich reichen die Geschichte eines Totengeists weiter, halb Mensch, halb Hirsch, mit einem riesigen Geweih und spitzen Zähnen. Das Wesen soll in dunklen Wäldern hausen und dort nicht nur Jagd auf Menschen machen, sondern auch die Macht besitzen, diese in Kannibalen zu verwandeln. Ein Biss reicht, um die Transformation auszulösen, ähnlich wie bei Zombies. Der Popkultur ist es auch nicht ganz fremd - in Stephen Kings "Friedhof der Kuscheltiere" kommt es ebenso vor wie in der Monsterjäger-Serie "Supernatural".

Lucas' Versuch, das Monstrum mit Tierkadavern zu besänftigen und vor der Gemeinschaft zu verheimlichen, kann deshalb auch nur kurz gut gehen. Der Wendigo auf dem Dachboden wird mit der Zeit unbezwingbar. Lehrerin Julia versucht dem Jungen zu helfen, erkennt in ihm ihre eigene Geschichte von Vernachlässigung und Missbrauch wieder. Cooper macht so aus dem Film ebenfalls ein Zwitterwesen: Dank Fantasy-Experte Guillermo del Toro, der hier als Produzent fungiert, kommen die Schreckmomente klassischer "Creature Features" nicht zu kurz. Doch nutzt Cooper das Wesen vor allem, um die sozialen Missstände als unausweichliches Geflecht zu begreifen: All die Dramen und Probleme dieser Kleinstadt stehen miteinander in Zusammenhang - Arbeitslosigkeit begünstigt Suchtkrankheiten, die wiederum die Kinder der Betroffenen zu Leidtragenden machen, und so fort. Beunruhigender noch als das Grauen und der Ekel vor dem blutrünstigen Tier sind hier das psychologische Entsetzen und der Fatalismus einer Gesellschaft, die sich selbst zerfleischt.

Antlers , USA, Mexiko, Kanada, 2021 - Regie: Scott Cooper. Buch: Scott Cooper, Nick Antosca. Kamera: Florian Hoffmeister. Mit: Keri Russell, Jesse Plemons, Jeremy T. Thomas, Graham Greene. Disney, 100 Minuten.

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